‚Was bist du doch für eine Leseratte!‘ – Es war einmal … kein Vorwurf, sondern ein Kompliment für junge Leserinnen und Leser, die immer nur mit einem Buch vor der Nase anzutreffen waren. Tempi passati?
Empirische Untersuchungen wie die IGLU-Studie aus dem Jahr 2023 zeigen, die Lesekompetenz von Kindern und Jugendlichen schwindet zusehends. Wer liest noch Essays und Romane oder komplexe, wissenschaftliche Texte?
Selbst Initiativen wie die Stiftung Lesen haben diese Entwicklung nicht entscheidend beeinflussen können. Verschiedene gesellschaftliche Kräfte besitzen offensichtlich eine besorgniserregende Wirkung. Auch Chatsbots können schließlich das Lesen und Verstehen nicht ersetzen.
Wir haben einige Stimmen zur Zukunft des Lesens versammelt, die ein kritisches Licht auf die gegenwärtige Situation werfen, aber durchaus auch zuversichtlich klingen.
Eine befremdliche Provokation …
„Der Jugend muß zuerst das Sehen und Hören vergehen, sie muß vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen.“
Der Satz des Philosophen Hegels aus dem Jahr 1812 wird heute wohl eher als eine befremdliche Provokation empfunden, denn als sinnvoller pädagogischer Ratschlag. Vielleicht ist er jedoch als Denkanstoß geeignet, just in einem historischen Augenblick, in dem angeblich alles darauf ankomme, jungen Menschen Kompetenzen zu vermitteln, die ihnen einen ‚verantwortungsvollen und kreativen Umgang‘ mit Chatbots ermöglichen – im ‚Idealfall‘ sogar mit persönlichem KI-Agenten.
Das Paradox der „Plattform-Oralität“
In seinem Buch „Zukunft des Lesens“ diagnostiziert der Medienwissenschaftler Christoph Engemann eine doppelte Krise – des Textes und des Lesens: „Wozu noch lesen, wenn KIs besser und schneller lesen oder wenn, wie in der neuen Vorlesung, andere die Lektüre übernehmen und ihre Erkenntnisse im Rahmen der Plattform-Oralität zur Verfügung stellen? […] Lesen kostet Kraft. […] In der Plattform-Oralität werden Bücher zu etwas, was andere besitzen und andere lesen.“ Daraus resultiere ein Paradox, so Engemann: „Im Moment historisch einmalig hoher Alphabetisierungsraten und der nahezu friktionslosen Verfügbarkeit von beliebigen Texten, wird kaum mehr gelesen, sondern lesen gelassen.“
Welche Gefahren lauern da für Kinder und Heranwachsende?
Wie müsste eine Pädagogik mit einer solch vertrackten Situation umgehen, wenn sie den Anspruch von Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit aufrechterhält? Müsste sie nicht maßgeblich die Voraussetzungen und Bedingungen eines sinnvollen und souveränen Umgangs mit digitalen Technologien bedenken?
Wie können junge Menschen für sich eine stabile Innenwelt ausbilden, Denkvermögen, Urteilskraft, Unterscheidungsvermögen und einen moralischen Kompass entwickeln, um in einer stetig komplexer werdenden, unübersichtlichen, krisenhaften Welt handlungsfähig zu sein?
Welche Bedeutung spielt dabei die ‚Kulturtechnik‘, verstehend lesen zu können?
Das Fundament der demokratischen Gesellschaft riskieren?
Die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth warnt in Ihrem Buch „Club der Dilettanten“ sehr eindrücklich: „Wer nicht für die Rahmenbedingungen sorgt, aber die Lesekompetenz zur Eintrittskarte erklärt, ohne die es gesellschaftliche Teilhabe nicht gibt, riskiert das Fundament jeder demokratischen Gesellschaft: Vertrauen.
[…] Auch in der Lesefrage wächst der Zweifel, ob wirklich eine gesellschafts- und weltverändernde Absicht hinter Schülerprogrammen steht oder nur die Sicherung von Bedingungen, die partikulare Interessen fördern. Dass eine Minderheit der Gesellschaft […] Vorteile davon hat, wenn Menschen mit niedrigem Bildungsniveau zu niedrigem Lohn beschäftigt werden können, ist nun einmal so. Man nennt das dann: Tatsache.
Diesen Zustand nicht zu ändern, ist bestenfalls gedankenlos, auf jeden Fall sozial kalt. Unbildung aber nicht nur bewusst zu erhalten, weil sie für einige nützlich ist, sondern auch noch an der Entwicklung und dem Verkauf der Mittel zu verdienen, mit denen bereits Kinder davon abgehalten werden, was sie unterstützen könnte, und stattdessen Zerstreuung zu kultivieren und die hungrigen kognitiven Kräfte an sinnlose Zeitverschwendung bis zur Abhängigkeit zu gewöhnen, ist ein Verbrechen. Gleichzeitig von Chancengleichheit zu reden, weil ja jeder die Geräte jederzeit ausschalten kann und sich einfach nur hinsetzen und diszipliniert lernen könnte, wenn er denn nur etwas lernen wollte, das nennt man: moralische Verkommenheit.“
Das Lesen von Worten als „schöpferische Kraft“
Sieben Jahre lang hat die US-amerikanische Neurowissenschaftlerin und Legasthenieforscherin Maryanne Wolf an ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ gearbeitet. Im Vorwort schreibt sie: „Ich habe mein Leben in den Dienst von Wörtern gestellt – ich möchte herausfinden, in welchen verborgenen Winkeln des Gehirns sie sich verstecken, ich möchte die verschiedenen Ebenen ihrer Bedeutung und Form erforschen und jungen Menschen von ihren Geheimnissen erzählen. Auf den folgenden Seiten lade ich Sie ein, sich die ungeheure schöpferische Kraft vor Augen zu führen, die sich hinter dem Lesen von Wörtern verbirgt.
Keine Errungenschaft unserer geistigen Entwicklung sollten wir weniger selbstverständlich hinnehmen – vor allem in der heutigen Zeit, in der der Übergang zur digitalen Kultur immer schneller voranschreitet. Noch nie hat man die komplexe Schönheit des Lesevorgang und die Vielfalt der damit verbundenen Leistungen wissenschaftlich so gut durchschaut wie heute und noch nie lief das Lesen so sehr Gefahr, von anderen Kommunikationsformen ersetzt zu werden.“
Mahnung an Eltern, Lehrer, Wissenschaftler und Politiker …
Wolfs Fazit ist daher unmissverständlich: „Alle, die mit der Erziehung junger Menschen betraut sind – Eltern, Lehrer, Wissenschaftler, Politiker –, müssen gewährleisten, dass von der Geburt bis zum Erwachsenenalter jede Komponente des Leseprozesses überlegt, sorgfältig und ausdrücklich vorbereitet oder gelehrt wird. Auf diesem Weg sollte nichts für selbstverständlich erachtet werden – seien es im Kindergarten erworbene Kenntnisse über die kleinsten Lauteinheiten in Wörtern oder die Fähigkeit, die subtilsten Gedankengänge in T.S. Eliots Gedicht Little Gidding zu interpretieren.
Und bei dem besonders heiklen Übergang der Kinder auf das Niveau des flüssigen verstehenden Lesens müssen wir alles daransetzen, dass das Eintauchen in die digitale Welt unsere Kinder nicht davon abhält, das, was sich unter der Oberfläche aller möglichen Informationen verbirgt, zu bewerten, zu analysieren, zu gewichten und zu sondieren.
Wir müssen unseren Kindern ‚Bitextualität‘ oder ‚Multitextualität‘ vermitteln – sie sollen in der Lage sein, Texte flexibel auf verschiedene Arten zu lesen und zu interpretieren, und sie brauchen in jeder Phase der Entwicklung eine ausdrückliche Unterweisung, um die richtigen Schlussfolgerungen ziehen und mit den anspruchsvollen Aspekten eines Textes umgehen zu können. Wenn wir in unserer Gesellschaft die Prozesse vorantreiben wollen, aus denen reife, kompetente Leser hervorgehen, muss Kindern in einem offenen Dialog zwischen Schülern und Lehrern vermittelt werden, wie sie die in geschriebenen Wörtern verborgene sichtbare Welt entdecken können.
„… vom trügerischen Gefühl… “
Die wichtigste Lehre, die ich aus der Untersuchung der Leseentwicklung gezogen habe, soll eine Mahnung sein. Ich fürchte, dass viele unserer Kinder Gefahr laufen, genau das zu werden, wovor uns Sokrates gewarnt hat – eine Gesellschaft von Informationsdecodierern, die sich vom trügerischen Gefühl, alles verstanden zu haben, davon abhalten lassen, ihr geistiges Potential voll auszuschöpfen.“
„Leser sind eigenartige Leute“
Zu erinnern ist an die Worte des Schriftstellers Peter Bichsel aus dem Jahr 1988, der nicht nur an die Schulpolitiker die Frage richtete, ob es ihnen wirklich ernst sei mit der „Dauerforderung, dass das Lesen gefördert werden solle, denn Leser seien „eigenartige Leute“, und er ergänzte: „Leser sind subversiv, weil sie sich eine andere Welt denken können. Nicht etwa die Schriftsteller sind es, und wenn sie es sind, dann sind sie es als Leser. Lesen ist immer aussteigen aus dieser Welt. Und Lesen ist immer unnötig, weil es unökonomisch ist. Lesen braucht viel zu viel Zeit. Lesen verführt zur Langeweile, zur Zeitverschwendung.“
Vielleicht muss man Hegels Worte dabei mitdenken. Denn, wenn einem Sehen und Hören vergeht, steht für einen auch die Zeit still. Ganz bei sich bleiben und sich zugleich ent_fremden, kann man nur beim Lesen: ein Zustand produktiver, eigensinniger Lange-Weile, in der Lesen belebt.
TEXT Erhard Mich
ILLUSTRATION Ibou Gueye
LITERATUR
- G.W.F. Hegel: Werke Bd. 4, Frankfurt am Main 1970, S. 413
- Christoph Engemann: Die Zukunft des Lesens, Berlin 2025, S. 130, 134, 136
- Bettina Stangneth: Club der Dilettanten, Hamburg 2025, S. 243 f.
- Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn, Heidelberg 2009, TB 2010), S. 265
- Peter Bichsel: Eigenartige Leute – Leser zum Beispiel, aus: Der Deutschunterricht. 40. Jg., Heft 4 1988, S.7
- Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Hamburg 2000
- Siegfried Unseld (Hg.): Erste Lese-Erlebnisse, Ffm, 1975

