#LebensformDemokratie

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Demokratiebildung und Urteilskraft

Im Januar 2025 veranstaltete das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) eine Fachtagung zum Thema „Demokratiebildung im Beruf – Eine Aufgabe für alle Lernorte". Keine Staatsform ist so sehr auf die Urteilskraft jedes Einzelnen angewiesen wie die Demokratie. Sie bedarf aber eines „Rastplatzes der Reflexion, einer ausgewogenen Distanz gegenüber den Turbulenzen wirklicher Verhältnisse" , so der Sozialphilosoph Oskar Negt (1933-2024) in seinem Buch „Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform". Schulen sind unseres Erachtens die gesellschaftlichen Orte, an denen diese Form der Weltaneignung verlässlich eingeübt werden kann: Orientieren, Wissen, Lernen, Erfahren, Urteilen und nicht zuletzt Charakterbildung.

Ist die Demokratie zukunftsfähig?

In Zeiten von KI generierter Desinformation hat die Frage nach Wesen und Wert der Demokratie", die der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen (1881-1973) bereits in seiner Schrift im Jahr 1920 stellte, nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. 1978 erschien das Buch „Kann die Demokratie überleben?" des in Lübeck geborenen Juristen und Politikwissenschaftlers Arnold Brecht (1884-1977)1), in dem er ein seiner Ansicht nach unwiderlegbares, vierteiliges Argument gegen totalitäre Macht nennt: 

„Erstens ist es unmöglich zu garantieren, daß der Mann, der sich zum Diktator entwickelt, zu dem Zeitpunkt, an dem er die absolute Macht erhält, gut und weise sein wird. 

Zweitens ist es unmöglich zu garantieren, daß er es bleiben wird und

drittens, daß seine Nachfolger es sein werden.

Und viertens ist es eine Tatsache, daß kein Führer, von noch so hohem Verstand und so engelhaftem Charakter er auch sein mag, als Mensch in der Lage ist, … Millionen von Menschen vor den willkürlichen oder korrupten Praktiken seiner zu Tausenden zählenden Untergebenen … zu schützen, wenn es keine unabhängige Meinungsäußerung, keine unabhängige Presse und keine unabhängigen Gerichte gibt … 

Es scheint eine verbreitete Neigung zu geben“, so diagnostizierte er, „den Fortbestand der Grundrechte in den westlichen Ländern für selbstverständlich zu halten. Das ist, so fürchte ich, eine gefährliche Illusion“.

Arnold Brechts Warnung nehmen wir ernst und werden deshalb in regelmäßiger Folge Beiträge publizieren sowie auf Artikel oder Podcasts verweisen, von denen wir glauben, dass sie demokratiebildend wirken können.

Anmerkung

1)  Arnold Brecht gehörte in der Weimarer Republik zu den wenigen hochrangigen Ministerialbeamten, die die Republik zu verteidigen versuchten. Nur wenige Tage nach seiner Rede im Reichsrat, am 2. Februar 1933, in der er Hitler aufforderte, sich an Recht und Gesetz zu halten, wurde er entlassen und emigrierte November in die USA. Brecht wurde amerikanischer Staatsbürger, lehrte bis zu seiner Emeritierung Politikwissenschaft an der New School for Social Research in New York. Beratend war er an der Ausarbeitung des Grundgesetzes beteiligt. 1959 erschien sein Standardwerk „Political Theory" (dt. 1961) In den Jahren 1966 und 1967 folgten die Lebenserinnerungen „Aus nächster Nähe" und „Mit der Kraft des Geistes". Das Buch „Kann die Demokratie überleben?" konnte Arnold Brecht noch kurz vor seinem Tode vollenden. Er starb 1977 in Eutin während einer Deutschlandreise.

TEXT Erhard Mich
ILLUSTRATION MOMO Studio via Unsplash, "Denker-Club" - Zeitgenössische Karikatur (um 1830)

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Literatur

  • Arnold Brecht: Kann die Demokratie überleben?, Stuttgart 1978
  • Oskar Negt: Der politische Mensch. Demokratie als Lebensform, Göttingen 2010
  • Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB): Fachtagung „Demokratiebildung im Beruf – Eine Aufgabe für alle Lernorte" (https://www.bibb.de/de/199291.php)
  • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb): Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ). Demokratie in Gefahr?, 74. Jg., 27/2024, 29.06.2024
  • bpb: APuZ. Demokratie jenseits von Wahlen, 74. Jg., 42/2024, 12.10.2024
  • bpb: APuZ. Parlamentarismus, 74. Jg., 38-39/2024, 14.09.2024
  • bpb: APuZ. Wissenschaft, Öffentlichkeit, Demokratie, 72. Jg., 26-27/2022, 27.06.2022

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