Fluch oder Segen? Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz hält immer mehr Einzug in vielen Berufsfeldern. Prof. Dirk Johannßen, Professor an der Fachhochschule Westküste in Heide, hat uns im Interview verraten, wie er die Auswirkungen von KI im Berufsleben zukünftig einschätzt, warum er ChatGPT nur wenig in seiner Forschung nutzt und was junge Menschen, die gern in das Fachgebiet Künstliche Intelligenz einsteigen wollen, mitbringen sollten.
ME2BE: Ich bin Markus, Redakteur bei ME2BE, und spreche heute mit Prof. Dirk Johannßen von der FH Westküste. Stellen Sie sich bitte einmal vor.
Prof. Dirk Johannßen: Ja, gern. Mein Name ist Dirk Johannßen. Ich bin Professor für Künstliche Intelligenz in der Mensch-Maschine-Interaktion an der Fachhochschule Westküste in Heide. Und ich habe die Ehre, in der Wirtschaftspsychologie zu lehren, aber auch ab diesem Wintersemester den neuen Studiengang Angewandte KI zu vertreten.
Wie sind Sie persönlich auf Künstliche Intelligenz gekommen und was fasziniert Sie an diesem Fachgebiet?
Ich hatte das große Glück, damals in meinem Masterstudium an einen sehr versierten Wissenschaftler in einem Wahlpflichtmodul zum Thema Künstliche Intelligenz zu geraten. Das war Christoph Stahl vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Er war so ein richtiger „Robotiker alter Schule“. Er hat uns noch Agentensysteme gezeigt und seine eigene Forschung, vor allem im Patientenbereich, wo Patienten mit intelligenter Wegfindung unterstützt werden. Da haben wir noch die alten Algorithmen gelernt und dergleichen. Das hat mich völlig begeistert. Danach wollte ich mich unbedingt in das Thema vertiefen. Also hat mich eine Koryphäe auf dem Gebiet auf Künstliche Intelligenz gebracht.
Wie lange ist das her?
Das ist schon einige Jahre her. Ich habe mein Masterstudium von 2015 bis 2017 absolviert
Was sind Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion?
Meine aktuelle Forschung dreht sich hauptsächlich um die natürliche Sprachverarbeitung (NLP). Das ist das, was man heutzutage in Form von ChatGPT kennt. Damals, als ich angefangen habe, gab es das Modell, also die Verarbeitung menschlicher Sprache gepaart mit psychologischer Diagnostik, noch nicht. Das heißt, ich beschäftige mich hauptsächlich damit, den Prozess, wenn Psychologinnen und Psychologen irgendwas aus Sprache herauslesen wollen – irgendwelche Charakteristika oder Typen – zu automatisieren, zu untersuchen und Muster zu erkennen. Das ist mein Schwerpunkt.
Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus? Forschend, lehrend oder organisierend?
Einen typischen Arbeitstag gibt es bei Professoren selten. Aber diese heilige Dreifaltigkeit gibt es tatsächlich. Wir haben nicht nur die Aufgabe, in der Lehre aktiv zu sein, sondern sind auch in der sogenannten akademischen Selbstverwaltung. Das heißt, wir sind in Gremien, Ausschüssen, Senaten und Konventen. Wir sind aber natürlich auch forschend unterwegs. Das müssen wir nicht, aber viele machen das an Fachhochschulen. Und deswegen ist mein Arbeitsalltag auch sehr bunt. Natürlich gibt es Vorlesungen, Studierendensprechstunden und Projekte. Aber ich treffe mich stellenweise auch mit der Wirtschaft oder bin auf Berufsinformationsmessen. Oder ich gebe wie jetzt gerade Interviews und dergleichen. Aber ich sitze auch durchaus mal in Meetings, im Senatsraum, unterhalte mich mit Kolleginnen und Kollegen, schreibe Gutachten oder halte Vorträge. Das heißt, meinen Arbeitsalltag kann ich gar nicht richtig skizzieren, weil der sehr, sehr vielfältig ist.
Welche Rolle spielt die Praxisnähe an der Fachhochschule Westküste?
Die Praxisnähe ist das, was Fachhochschulen von Universitäten unterscheidet. Gerade bei einer kleinen Hochschule wie der Fachhochschule Westküste in Heide ist es wichtig, dass wir den Studierenden einen Mehrwert bieten. Natürlich machen wir das über sehr gut ausgebildete Dozierende, aber wir versuchen auch, uns mit dem Mittelstand der Region zu verknüpfen und die Studierenden direkt an praktische Themen heranzuführen. Die Kooperationen reichen von Verbänden wie zum Beispiel dem Verband der Schleswig-Holsteinischen Energie- und Wasserwirtschaft (VSHEW) und Nordmetall bis hin zu einzelnen Unternehmen wie zum Beispiel Groth, einem Bauträger aus Pinneberg, bei denen wir dann versuchen, Projekte, Bachelor- und Masterthesen-Themen, Praktika und dergleichen heranzuholen. Das heißt, wir wollen den Studierenden vor allem direkt zeigen, wie man reale Probleme aus der Wirtschaft löst.
Welche interdisziplinären Schnittstellen begegnen Ihnen regelmäßig in Ihrer Arbeit?
Die Interdisziplinarität ist gerade bei der Künstlichen Intelligenz enorm hoch. Ein Auszeichnungsmerkmal der Künstlichen Intelligenz ist, dass sie sich seit dem Aufkommen der neuronalen Netze ab 2015, 2016 dadurch auszeichnet, dass man fast jedes Problem lösen kann. Deshalb kann KI in fast allen Bereichen verwendet werden: Linguistik, Geschichte, Medizin, Bauwesen, Psychologie und vieles mehr. Die Interdisziplinarität ist das, was meinen Mehrwert als KI-Professor in der Mensch-Maschine-Interaktion überhaupt ausmacht.
Was sind die größten Herausforderungen bei der Entwicklung von KI-Systemen, die mit Menschen interagieren?
Eine der größten Herausforderungen ist, dass der Mensch selbst ja nicht als Maschine zu verstehen ist. Menschen sind vielfältig und machen Fehler. Wenn wir mal das Beispiel der natürlichen Sprache nehmen, dann gibt es sehr viele Mehrdeutigkeiten. Programmiersprachen sind im Unterschied zu menschlichen Sprachen formalisiert, mathematisch und stets eindeutig. Das heißt, eine Aussage entspricht genau einer Bedeutung, während die menschliche Sprache oft mehrdeutig ist. Wenn ich zum Beispiel so etwas sage wie: „Ich zählte meine Kohle, als ich auf der Bank saß“, ist das unklar. Ist damit die Parkbank gemeint? Ist damit das Finanzinstitut gemeint? Was genau heißt Kohle? Bedeutet das in dem Fall Geldmittel oder Kohle-Briketts? Und diese Mehrdeutigkeit ist sehr schwer mit solchen Modellen abzubilden. Das macht aber auch den Wert von KI für menschliche Daten aus.
Wie beurteilen Sie die gesellschaftlichen Auswirkungen von KI, insbesondere im Berufsalltag?
Die Auswirkungen werden sich erst im Laufe der Jahre deutlich zeigen. Man spricht bei Künstlicher Intelligenz inzwischen von einer disruptiven Innovation. Mit KI ist oft das Sprachmodell oder das große Sprachmodell, das Large-Language-Model, wie zum Beispiel ChatGPT, gemeint. Und wir sehen, dass die Fähigkeiten von diesen Sprachmodellen auf der Grundlage von menschlicher Sprache trainiert und gebaut worden sind. Die Sprachmodelle heute dienen als Universalgenies, die uns als Stütze, als Assistenzsysteme, zur Seite stehen, und nehmen damit Einzug in fast alle Berufsfelder. Es gibt nur noch wenige Berufe, bei denen ich davon ausgehe, dass KI in Zukunft keine Rolle spielen wird. Und es gibt einige Berufsfelder, die sehr massiv durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz verändert und komplett neu gestaltet werden. Andere Berufsfelder werden zumindest etwas unterstützt werden und sich etwas anpassen. Und es gibt nur ganz wenige Berufe, die das fast gar nicht tangiert, vor allem im handwerklichen Bereich. In der Forstwirtschaft bei der Arbeit in der Natur, glaube ich nicht, dass Sprachmodelle allzu schnell größeren Einzug nehmen. Aber in fast allen anderen beruflichen Tätigkeiten – seien es Bürojobs oder kreative, geisteswissenschaftliche oder naturwissenschaftliche Tätigkeiten – wird die Künstliche Intelligenz mehr und mehr Einfluss gewinnen.
Gibt es Projekte, auf die Sie besonders stolz sind oder die Ihnen besonders am Herzen liegen?
Zwei Projekte haben mich in letzter Zeit besonders begeistert. Zum einen ein wissenschaftliches Projekt, bei dem wir die natürliche Sprachverarbeitung für Psychologie benutzt haben, um eine Replikationsstudie basierend auf Theorien von David Winter durchzuführen. Das ist ein Psychologe, der damals politische Reden vor Kriegssituationen untersucht hat. Sein Ziel war es, herauszufinden, ob eine gewisse Rhetorik darauf hinweist, dass es gerade Kriegstätigkeiten oder soziale Unruhen gibt. Das konnten wir replizieren und vor und während der Corona-Pandemie nachstellen. Wir haben festgestellt, dass es in der Rhetorik der Menschen, in dem Fall auf der Plattform Twitter (heute X), rhetorische Veränderungen gibt, die darauf hingewiesen haben, dass wir gerade politische und soziale Spannungen erleben. Das Projekt hat mich aus wissenschaftlicher Sicht sehr fasziniert. Zum anderen hat mich ein Projekt sehr begeistert, bei dem zehn Studierende bei einem großen Bauträger, Groth aus Pinneberg, versucht haben, 2D- in 3D-Baupläne zu übersetzen und daraus automatisiert Vektoren herzustellen, um sie dann für sogenannte BIM-Modelle (= Building Information Models), zu übersetzen und 3D-Modelle daraus zu machen. Das Projekt ist noch nicht zu Ende entwickelt in der kurzen Zeit, die die Studierenden hatten. Aber die Studierenden waren in der Lage, sogenannte CNN, also Convolutional Neural Networks, bildverarbeitungsneuronale Netze zu bauen, anzuwenden und dann tatsächlich gewaltige Klassifikationen und Vektoren daraus zu machen. Das fand ich sehr beeindruckend.
Welche Kompetenzen sollten Studierende oder Berufseinsteiger mitbringen, die in Ihrem Feld arbeiten wollen?
Eine Grundkompetenz ist aus meiner Sicht, dass man sich in der Mathematik insofern zurechtfindet, dass man grob versteht, was zum Beispiel eine Ableitung in einer Kurvendiskussion ist, was Matrizen sind und was statistische Signifikanz bedeutet. Das sind Themen, die in der Künstlichen Intelligenz immer mal wieder aufkommen. Zumindest sollte man keine Angst vor Mathematik haben und auch bereit sein, mal etwas nachzuschlagen oder nachzurechnen. Vor allem würde ich empfehlen, dass man sich mit der Programmiersprache Python beschäftigt, denn Python ist die Sprache der Künstlichen Intelligenz und der Wissenschaft. Diese braucht man grundlegend in sehr vielen Disziplinen. Und natürlich eine gehörige Portion Neugier! Die Künstliche Intelligenz lebt davon, dass wir dieses Thema anfassen, ausprobieren, herunterladen oder nachbauen. Da gibt es ganz großartige Blogartikel, Einstiegsliteratur und Videos, die man sich anschauen kann. Diese Neugier und keine Angst vor diesen Themen sind wichtige Zutaten.
Wie verändert sich Ihre Arbeit durch die rasante technologische Entwicklung? Also zum Beispiel durch ChatGPT oder andere große Sprachmodelle?
Interessanterweise muss ich gestehen, dass sich meine persönliche Arbeit durch ChatGPT nur in dem Maße verändert hat, dass die Öffentlichkeit und das Interesse an der Künstlichen Intelligenz größer geworden sind. Ich habe mich während meines Studiums der Informatik und dem Doktorat bereits mit Sprachmodellen beschäftigt. Damals waren das größtenteils noch sogenannte statistische Sprachmodelle, noch keine neuronalen Sprachmodelle. Das heißt, die Grundtheorie dahinter, die Sprachverarbeitung, also dass es Sprachmodelle gibt und dass diese für gewisse Einsatzzwecke nützlich sein können, war mir vorher schon bewusst. Das habe ich auch bereits in meine Studien einfließen lassen. Die Veröffentlichung von ChatGPT war auf jeden Fall ein großer Aha-Moment, auch für uns aus der Wissenschaft. Die Kraft und die Kompetenz dieser Modelle hat uns dann doch sehr überrascht. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass meine alltägliche Arbeit sehr wenig tangiert wird von ChatGPT. Ich baue meine Vorlesungsfolien größtenteils noch händisch und überlege mir eigenständig Beispiele. Wenn ich programmiere, dann nutze ich ChatGPT hier und da mal für kleinere Codes, kleinere Algorithmen, aber ansonsten baue ich die größeren Systeme auch händisch und selbst. Ich nutze ChatGPT gelegentlich für Bildmaterial. In der eigenen Forschung, auch beim Formulieren von wissenschaftlichen Studien, kommen bei mir Sprachmodelle gar nicht zum Einsatz, weil ich zu kritisch bin, ob die Details dessen, was erzeugt wird, auch immer stimmen. Das heißt, ich selbst nutze diese Sprachmodelle weniger oft, als man erwarten würde. Aber die Öffentlichkeit hört oft und gern Vorträge, Workshops, Themen zu Fragen wie: „Wie geht das? Was passiert da? Und was steckt da überhaupt hinter?“
Fehlt Ihnen das Vertrauen oder warum nutzen Sie Sprachmodelle nicht?
Bei Sprachmodellen ist Vertrauen aus meiner Sicht eher negativ zu bewerten, wenn es ein blindes Vertrauen ist. Manche denken, dass diese so kompetent sind, dass sie immer eine korrekte und detailgetreue Antwort geben. Größtenteils hängt die Richtigkeit aber davon ab, was man das Modell in welcher Detailliertheit fragt und inwiefern das Wissen darüber überhaupt öffentlich zugänglich ist, weil diese Modelle auf Basis von öffentlichen Internetdaten trainiert wurden. Gerade in der Wissenschaft, wenn ich neue Erkenntnisse ziehe und wenn es noch nicht den großen Konsens gibt, das heißt, bei Themen, bei denen nicht unbedingt bereits eine etablierte, faktenbasierte Ansicht existiert, sondern noch geforscht wird, muss man sehr skeptisch sein. Auch Details kriegen die Modelle manchmal nicht korrekt hin. Nun könnte ich diese Modelle nutzen, um automatisiert Grundlagen oder nahe verwandte wissenschaftliche Arbeiten für meine Paper erzeugen zu lassen. Ich wäre aber als Wissenschaftler in jedem Fall gezwungen, jede Aussage, jeden Fakt, jedes Thema nochmal versiert zu recherchieren und gegenzuprüfen. Das ist natürlich in der Wissenschaft wesentlich scharfkantiger, als wenn ich zum Beispiel in anderen Domänen arbeite. Und weil das so viel Arbeit bereitet, ich ohnehin das Selbstformulieren genieße und vergleichsweise sehr kurze Studien veröffentliche – in der Informatik sind Studien manchmal nur vier bis höchstens acht Seiten kurz, während in der Psychologie auch mal 40, 50 Seiten auftreten – bin ich jemand, der in der Wissenschaft Sprachmodelle fast gar nicht verwendet.
Welche Kooperationen mit Unternehmen oder Institutionen pflegen Sie und wie profitieren Studierende davon?
Da ich selbst zwar aus der Region komme, ursprünglich aus Hamburg, und neu zur Fachhochschule Westküste in Dithmarschen dazugestoßen bin, gab es im Vorhinein zwar ein paar Wirtschaftskontakte. Ich bin aber gerade dabei, größere Wirtschaftskontakte aufzubauen. Das bereitet mir sehr viel Freude, weil die Region an der Westküste sehr dankbar und offen ist für Kooperationen. Ich selbst bin zum Beispiel in Kontakt mit dem VSHEW, Nordmetall, der Chipfabrik in Itzehoe oder Groth in Pinneberg. Die Studierenden profitieren vor allem davon, dass ich in meiner Fachexpertise als Wissenschaftler direkt weiß, was Unternehmen fordern, woran sie forschen, wo ihre Probleme liegen und wie ich ihnen in größeren Projekten weiterhelfen kann. Zum anderen gibt es auch häufig einsteigerfreundliche Themen für Studierende, für ihre Abschlussarbeiten, Thesen, Praktika und Fallstudienseminare. Das sind große Projekte, die über mehrere Monate andauern. Das heißt, die Studierenden haben einmal Praxisbeispiele, die ich sofort in der Vorlesung einbringen kann, und sehen sofort: „Ach, dieser komische Sternalgorithmus, der ist nicht völlig an den Haaren herbeigezogen, sondern damit können wir jetzt die beste Route für ein Müllfahrzeug berechnen“. Das sehen sie dann direkt in den Vorlesungen. Sie haben sofort Themen, um sich in ihren Abschlussarbeiten tief reinzugraben, ihre Expertise zu schärfen und vielleicht sogar bereits einen Fuß in der Tür zu haben und bei den Unternehmen direkt anfangen zu können. Und mit diesen Fallstudienpraktiken können sie wirklich mal durchspielen, wie wäre das denn jetzt, wenn wir ein wissenschaftliches Thema, aber management- und praxisorientiert über ein paar Monate ausarbeiten. Das heißt, diese Nähe zur Praxis, die ist jetzt hier nicht einfach nur pro forma, weil das erwartet wird, sondern die bringt wirklich allen Involvierten einen riesigen Mehrwert.
Was motiviert Sie persönlich bei Ihrer Arbeit und wie bleiben Sie selbst am Puls der Zeit?
An meiner Arbeit motiviert mich, dass ich als Arbeiterkind damals einen sehr schwachen, schweren Zugang zur akademischen Welt gefunden habe und große Schwierigkeiten hatte, mich überhaupt dazu zu bewegen und meine Familie zu überzeugen, ein Studium anzutreten. Ich hatte es als Fachhochschulabsolvent im Bachelor und Master auch nicht unbedingt leicht, eine Promotionsstelle zu finden. Ich musste sehr viel Überzeugungsarbeit leisten und hatte immer das große Glück, dass ich an einzelne Personen geraten bin, die an mich geglaubt haben, die mir die Welt der Wissenschaft, der akademischen Tätigkeit und auch der praktischen Ausarbeitung eröffnet und mich gefördert haben, sodass ich mich entfalten konnte. Ich war als Jugendlicher schon sehr neugierig und wissensdurstig und hatte immer das Gefühl, dass ich in der Schule tendenziell unter meinem Potenzial geblieben bin. Die Möglichkeit weiterzumachen, verdanke ich einzelnen Schlüsselpersonen. Ich verdanke ihnen aus meiner Sicht im Grunde alles. Das ist einer der Hauptgründe, warum ich mich auch für eine Fachhochschule entschieden habe, statt an eine Universität zu gehen, weil ich das Bedürfnis hatte, jungen Menschen hier große Welten zu eröffnen, sie zu motivieren und zu begeistern. An Fachhochschulen ist gerade die Zusammenarbeit mit Studierenden das, was uns stärker auszeichnet als an Universitäten, wo zum Beispiel die Forschung etwas prägnanter und größer ist. Das begeistert mich bei dem Job. Ich selbst genieße die Künstliche Intelligenz, weil durch ChatGPT das Ganze immer in Bewegung ist und ich wirklich fit bleiben muss. Ich habe als sehr junger Professor die große Sorge, dass ich jetzt so ein bisschen stehen bleibe, es mir gemütlich mache, meinen alten Stand behalte und den Puls der Zeit verliere. Und ich versuche mich natürlich aktiv weiterzuentwickeln, indem ich die aktuellen Studien lese, die aktuellen Modelle ausprobiere und vor allem – und das halte ich für ganz, ganz wichtig – neben dem Austausch mit den Unternehmen, um am Puls der Zeit zu bleiben, auch noch selbst forsche und Systeme baue, adaptiere und programmiere. Das möchte ich immer beibehalten. Das ist nicht immer einfach, weil der Tag vollgepackt ist mit Tätigkeiten, aber ich hoffe, das niemals zu verlieren, damit ich wirklich genau weiß, wovon ich rede und nicht nur aus Büchern berichte.
Zu welchen Themen forschen Sie?
Meine Forschung bezieht sich vor allem darauf, sogenannte psychologische Metriken, die aus Sprache gezogen werden, in Modelle zu gießen. Ein Beispiel: Wenn wir auf Social Media irgendwelche Äußerungen von Menschen darüber lesen, wie sie zum Beispiel auf einer Party waren oder zu einer Party gehen werden, dann haben viele so ein Grundverständnis davon, was sie ‚intro‘ oder ‚extro‘ nennen würden. Was wir damit meinen, sind die jungschen Archetypen ‚Introversion‘ und ‚Extraversion‘. Der Grundgedanke ist, dass introvertierte Menschen – salopp gesagt – ihre Energie daraus ziehen, für sich zu sein und Ruhe zu haben. Das heißt, sie sind in der Lage, aus sich heraus ihre Batterien wieder aufzuladen und im Austausch mit anderen, im Austausch mit der Umwelt, entladen sie ihre Batterien. Das bedeutet nicht, dass introvertierte Menschen nicht gerne auf Partys gehen, aber sie sind danach etwas erschöpfter als extraversierte Menschen, die dann energetischer sind, wenn sie auf Partys sind. Das heißt, sie laden ihre Batterien durch die Umwelt auf und wenn sie alleine und ein bisschen gelangweilt sind, dann entladen sie ihre Batterien. Wenn wir Texte lesen, dann haben wir manchmal das Gefühl, herauskitzeln zu können, das ist jemand, der ist outgoing, der will auf Partys, der ist vielleicht charismatisch, redet gern und ist gern im Austausch und die anderen Leute sind vielleicht eher für sich, lesen mal ein Buch und fühlen sich damit sehr wohl. Wir haben das Gefühl, wir können das aus diesen Texten herauslesen. Die Psychologie versucht das natürlich alles in erkennbare Muster zu gießen. Das heißt, sie versuchen methodisch, diese verschiedenen Typen und Charakteristika aus den Texten herauszulesen. Nun ist es aber so, dass es sehr schwer ist, dafür Grundregeln zu finden. Oft sind es kleinste Grammatikstrukturen, kleinste Nuancen einer Formulierung, die dann eher das eine oder das andere bedeuten. Wir versuchen in den Modellen, das abzubilden. Und wenn wir das geschafft haben – das machen Psychologinnen und Psychologen, die dafür ausgebildet wurden und erstmal überall dran schreiben „intro, extra, intro, extra …“, das ist sehr mühselig – versuchen wir, von diesen sogenannten Labels automatisiert Modelle abzuleiten, zu trainieren und zu bauen, die uns dann in Zukunft hoffentlich neue Texte einordnen können. Wenn wir das Modell haben, müssen wir es immer noch mit der Realität eichen. Das heißt, wenn ich neue Texte habe und sage, das ist jetzt ‚intro‘ und das ist jetzt ‚extra‘, dann muss ich nochmal bei den Personen gucken: Verhalten sie sich wirklich so? Was bedeutet das jetzt? Und wenn ich sogar das bestätigen konnte, dann kann ich auf die Idee kommen und mich fragen: Wie reagieren introversierte Menschen während einer Coronapandemie? Wie reagieren extraversierte Menschen während einer Coronapandemie? Und darauf baue ich dann diese Forschung auf. Und das ist so die Haupttätigkeit, die ich mache. Ich nutze meine Modelle zum Beispiel inzwischen auch oft für andere Forschungsgruppen, gerade auch in einem Projekt aus Neuseeland, mit einer internationalen Forschungsgruppe, auch der Universität St. Gallen in der Schweiz, um diese dann zu verwenden für weitreichendere Auswirkungsstudien.
Folge 2 von dem Dreiteiler kommt bald online. Stay tuned!
TEXT Markus Till / Mareike Neumann
FOTO Sebastian Weimar

