Prof. Dr. Henning Kontny, Leiter des Departments Wirtschaft an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), über Digitale Vernetzung, Industrie 4.0 und logistische Herausforderungen der Zukunft
Wer bei „Logistik“ an Speditionen, Containerschifffahrt und Paketdienste denkt, ist auf der richtigen Spur, doch Transport und Lieferung sind nur Teilaspekte von Unternehmenslogistik. Logistik – das ist die „ganzheitliche Planung, Steuerung, Koordination, Durchführung und Kontrolle aller unternehmensinternen und unternehmensübergreifenden Informations- und Güterflüsse“. Da steckt also mehr dahinter.
Was genau, haben wir Prof. Dr. Kontny (im obigen Bild) gefragt, Logistikprofessor an der HAW und Leiter des dortigen Departments Wirtschaft.
ME2BE: Herr Professor Kontny, was ist Ihre Lieblingsfrage an Studierende?
Viele Studierende finden den Weg ins Studium über den hohen Fachkräftebedarf und die damit verbundenen guten Zukunftsperspektiven von Logistikexperten. Eine Standardfrage an Studienanfänger lautet: „Warum studieren Sie Logistik? Ich stelle immer wieder fest, dass sich vielen Studierenden die Komplexität der Logistik erst gegen Ende des Studiums erschließt. Oft höre ich dann den Satz: „Jetzt verstehe ich erst, was Logistik alles umfasst!“
Was lernen Studierende im Bachelorstudium „Logistik / Technische BWL“ an der HAW und welche Kenntnisse und Fähigkeiten sollten sie mitbringen?
Studierende lernen, Lieferketten zu analysieren, nach wirtschaftswissenschaftlichen Gesichtspunkten zu bewerten und selbstständig neue Lieferketten zu planen und zu betreiben. Mitzubringen sind idealerweise Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen, IT-, Management- und Planungsprozessen sowie ein technisches Grundverständnis. Bei uns wird studiert, aber auch programmiert, gelötet und geschraubt.
Oft höre ich dann den Satz:
„Jetzt verstehe ich erst, was Logistik alles umfasst!“
Was ist eigentlich das Ziel von Logistik?
Bei der Logistik und dem Supply Chain Management geht es um die ganzheitliche Optimierung von internationalen Wertschöpfungssystemen. Ziel ist es, möglichst wenig Ressourcen zu verschwenden und eine bestmögliche Kundenzufriedenheit zu erreichen. Dafür müssen alle Abläufe – von der Rohstoffgewinnung bzw. der Wiederverwertung von Stoffen über die Produktion und den Handel bis hin zur Rückführung der Produkte – in einer mehrstufigen Struktur mit selbständigen Akteuren optimal organisiert werden.
Woran erkennt man gute Logistik?
Es gibt die Weisheit: „Gute Logistik merkt man nicht!“ Wenn alle Kundenanforderungen erfüllt werden, alle Prozesse planmäßig und sauber ablaufen, ohne dass es zu Verzögerungen kommt und externe Dienstleister kurzfristig und kostenpflichtig gebucht werden müssen … dann kann man von gelungener Logistiksprechen.Diesfunktioniertallerdings zunehmend weniger, weil die Anforderungen, Prozesse schnell und exibel zu gestalten, ständig steigen. Da gibt es in Unternehmen zum Teil große Unterschiede zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Ich kennen kein Unternehmen, dass sich logistisch nicht noch verbessern könnte!
Heute sind über 20 Milliarden Geräte und Maschinen über das Internet vernetzt – bis 2030 werden es rund eine halbe Billion sein. Digitalisierung und Vernetzung wird mehr und mehr zum Motor für Wachstum und Wohlstand. Mit dem „Business Innovation Laboratory“ investiert das HAW in die Logistikforschung. Worum geht es in diesem Projekt?
Die Idee des „Business Innovation Laboratory (BIL)“ ist es, einen integrierten Ansatz für Forschung, Lehre und Transfer zu erarbeiten, der eine wissenschaftlich fundierte Behandlung von Prozess- und darauf aufbauenden Geschäftsmodellinnovationen erlaubt. Zentraler Ansatzpunkt ist dabei die wirtschaftlich erfolgreiche Nutzung der Forschungsergebnisse im Kontext von Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit dieser Ausrichtung schlägt das geplante Business Innovation Laboratory der HAW Hamburg neue Wege bei der wissenschaftlich fundierten Behandlung von Innovationsfragen des Unternehmens ein. Insbesondere die Behandlung von Fragen der Prozessinnovation erfordert eine neue Herangehensweise an das Thema. Ein Schwerpunkt des BIL ist die Beschäftigung mit Cyber-Physischen Systemen (CPS) und dem Thema „Industrie 4.0“.
Im Business Innovation Lab beschäftigen sich Logistikstudierende mit adaptiver Auftragsplanung für mittelständische Unternehmen.
Wie sieht die Logistik der Zukunft aus? Unbemannte Raumschiffe … summende Elektro-LKWs?
Unsere Verkehrsmittel werden sich grundsätzlich nicht so schnell ändern. Die Kernfrage bleibt: „Wie kann ich Transporte effektiver und günstiger gestalten?“ Ich glaube schon, dass wir „Autonomes Fahren“ innerhalb der kommenden zehn Jahre erleben werden, allein aufgrund des Einsparungspotenzials bei den Personalkosten. An selbstfahrende LKWs glaube ich noch nicht, doch die Assistenzsysteme werden so sein, dass Fahrer deutlich entlastet werden. Offen sind noch ethische und rechtliche Fragen. Im Bereich Digitalisierung müssen Fragen zur Datensicherheit und Cyberkriminalität geklärt werden. Zukünftig werden dezentralere Koordinationsmechanismen und Selbststeuerung durch automatische Systeme erforderlich sein. Es geht um Wandlungsfähigkeit und Infrastruktursysteme, die permanenten Wandel mitdenken können.
Warum müssen Logistiksysteme wandlungsfähig sein?
Durch den technischen Fortschritt und sich ständig verändernde Kundenanforderungen werden Firmen permanent vor logistische Herausforderungen gestellt. Wenn ein Unternehmen heute ein Logistiksystem einführt, war es wahrscheinlich vor 2 bis 3 Jahren optimal und wird noch 1 bis 2 Jahre funktionieren. Heutzutage haben wir aber den Anspruch, uns ständig verbessern zu müssen. Das ist das, was Industrie 4.0 fordert: Wandlungsfähigkeit. Wir können es uns nicht leisten, Logistik nur für ein paar Jahre zu planen! Ein Beispiel: Ein Unternehmen agiert auf unterschiedlichen Märkten, z.B. im Bereich PC-Hardware.
Im Hochpreissegment von PC-Produkten kommt es auf Qualität, schnelle Lieferung und individuelle Änderungswünsche an, während die wichtigsten Faktoren im Niedrigpreissegment von PCs Massenproduktion und kostengünstiger Transport sind. Die unterschiedlichen Produkte und Zielgruppen erfordern unterschiedliche logistische Prozesslösungen.
Setzen Sie Ihr Wissen auch im Alltag ein?
Man macht sich im privaten Umfeld schnell unbeliebt, wenn man beginnt, Prozesse optimieren zu wollen und alles unter ökonomischen Gesichtspunkten organisiert. Man ist auf jeden Fall Opfer der eigenen Kenntnisse. „Verschwendung“ ist ja ein zentraler Ansatzpunkt zur Prozessoptimierung. Dementsprechend versuche ich, wie jeder andere Mensch auch, zu vermeiden, dreimal in den Keller laufen zu müssen, sondern überlege mir vorher meinen Bedarf. Wenn ich Lebensmittel kaufe, lasse ich vorher kein Programm durchlaufen, sondern frage mich: Wann brauchen wir was, wie viel und woher? Das klappt recht gut. Vielleicht bin ich deshalb zuhause für die Einkäufe zuständig!“
TEXT Christian Dorbandt
FOTOS Eric Genzken