Krieg, Klima, Rechtsruck – viele fühlen sich von Krisen umzingelt. Auch wenn der Glaube an den Fortschritt bröckelt – das Bild einer besseren Welt hilft uns dennoch, meint der Soziologe Peter Wagner.
Herr Wagner, Sie sind Autor eines viel beachteten Essays zum Thema ‚Fortschritt‘. Schauen Sie zuversichtlich in die Zukunft?
Eigentlich neige ich zum Optimismus. Auch wenn es dafür gerade nicht so viele Gründe gibt. Es herrschen Kriege, in Sozialen Medien verbreiten sich Hass und Desinformation, die Natur wird weiter zerstört, Demokratien werden von autoritären Bewegungen bedroht. Nicht umsonst spricht man von Polykrisen. Deshalb überwiegen derzeit bei vielen die Sorgen. Der Glaube an einen umfassenden Fortschritt, der für die Aufklärung zentral war, ist aber schon länger erschüttert. Ich erinnere mich an eine international besetzte Tischrunde vor 25 Jahren. Schon damals erwartete keiner eine gute Entwicklung seines Landes. Und zuletzt haben rückwärtsgewandte Bestrebungen weltweit noch mehr Aufwind bekommen.
„Was ich mit Fortschritt verbinde, hängt auch davon ab, wo ich lebe.“
Aber gibt es nicht auch viele positive Entwicklungen?
Es kommt darauf an, was man betrachtet. So ist etwa der medizinische Fortschritt unbestritten. Bei technologischen Entwicklungen sehen wir negative wie positive Folgen. Auch im sozialen und politischen Bereich ergibt sich ein ambivalentes Bild. In vielen, allerdings nicht in allen Ländern haben heute alle Menschen gleiche Rechte. Die koloniale Beherrschung ist überwiegend beendet und formal sind die fast 200 Staaten, die Mitglied der Vereinten Nationen sind, einander rechtlich gleichgestellt. In der Realität werden die persönliche Freiheit und die Selbstbestimmung jedoch oft durch Machtausübung anderer eingeschränkt. Was ich mit Fortschritt verbinde, hängt auch davon ab, wo ich lebe. Als ich mein Buch zum Beispiel in Marokko vorstellte, hieß es dort: Wir wissen genau, was wir für bessere Lebensbedingungen brauchen – mehr Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung.
Unter Fortschritt versteht also jede und jeder etwas anderes?
Nicht unbedingt. Aber auch bei uns liegen die Erwartungen an die Zukunft zum Teil weit auseinander. Auf der einen Seite wird gesagt, es geht uns so gut wie nie zuvor. Und den Klimawandel würden wir durch technologischen Fortschritt schon irgendwie in den Griff bekommen. Auf der anderen Seite gibt es dystopische Erwartungen einer Endzeit, in denen Gewalt dominiert und der Planet ruiniert wird. Beide Vorstellungen sind nicht völlig abwegig und lassen sich begründen. Ich denke, uns steht weder das Ende der Welt bevor noch wird sich alles einfach ins Positive wenden.
Braucht es überhaupt ein positives Zukunftsbild? Reicht es nicht, Probleme einfach pragmatisch anzugehen?
Auch wenn die Devise oft nur heißt, wir wollen Rückschritt verhindern, braucht es als Grundlage eine Vorstellung davon, wie wir gut zusammen leben und arbeiten wollen. Dies gilt für die Gesellschaft ebenso wie für kleinere Gruppen im direkten Umfeld. Und da gibt es ja oft verschiedene Auffassungen, sogar beim selben Begriff. Freiheit etwa wird manchmal missverstanden als das Recht zu tun und lassen, was man will, wie zum Beispiel bei der Covid-Pandemie zu beobachten war. Wenn ich etwas verändern will, hilft es zu wissen, wohin die Reise gehen soll. Das war früher einfacher, weil die Idee des Fortschritts lange Zeit mit mehr materiellem Wohlstand verbunden war. Dieser hat aber zur Zerstörung der Natur geführt und bringt uns an die planetaren Grenzen. Um dieses Dilemma aufzulösen, müssten wir ein gemeinsames Bild einer Gesellschaft entwerfen, die Wohlstand erreicht, ohne die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören.
„… wie es weitergeht, entscheiden wir alle zusammen.“
Können wir nicht einfach darauf hoffen, dass es in der Geschichte mal zwei Schritte vor und dann wieder einen zurück geht?
Es ist richtig, dass es so etwas wie Pendelbewegungen gibt. Diese werden zum Beispiel durch Probleme angestoßen, die durch die marktliche Selbstregulierung oder die staatliche Lenkung der Wirtschaft entstehen. Aber Dinge ändern sich nicht von allein. Wenn mir die Welt nicht gefällt, muss ich etwas dafür tun, damit sie sich ändert. Unsere natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, ist hochgradig notwendig, weil sonst katastrophale Auswirkungen zu erwarten sind. Auch Freiheit muss immer wieder neu verteidigt werden. Menschen meiner Generation waren früher weit mehr als Jugendliche heute mit autoritären Beschränkungen konfrontiert. Viele Jüngere halten ihre Freiheiten dagegen für selbstverständlich.
Sie sind in Lütjenburg aufgewachsen. Wie frei haben Sie sich damals gefühlt?
Meine Schule war offen und liberal-demokratisch ausgerichtet. Diese Werte tatsächlich umzusetzen, dafür habe ich mich mit anderen engagiert. Mit einem Freund aus dieser Zeit bin ich über die gesellschaftlichen Entwicklungen bis heute im Gespräch. Auch das Thema Umweltschutz hat uns bewegt. Ich hatte einen großartigen Biologielehrer, mit dem wir zum Beispiel den Bach bei Lütjenburg untersucht haben. Das hat uns dafür sensibilisiert, wie wichtig Umweltschutz ist. In dem Bereich gibt es seitdem Rückschritte wie Fortschritte – wie es weitergeht, entscheiden wir alle zusammen.
Peter Wagner wurde 1956 in Lütjenburg im Kreis Plön geboren. Der Sozialwissenschaftler hat in Hamburg, London sowie Berlin studiert und ist Professor an der Universität Barcelona. Sein Buch „Soziologie der Moderne“ zählt zu den grundlegenden sozialtheoretischen Werken zur Moderne. Wagners Essay „Fortschritt. Zur Erneuerung einer Idee“ ist 2018 in einer Schriftenreihe des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erschienen.
TEXT Peter Ringel
FOTO Frederic Camallonga / ICREA