„Der Mensch besteht ja eigentlich aus Nanotechnologie“

„Der Mensch besteht ja eigentlich aus Nanotechnologie“

Ein Gespräch mit dem Materialforscher Rainer Adelung über unglaublich kleine Strukturen, Herpes, superflache Lautsprecher und die „KI der Dinge“.

Ein Bürogebäude in unmittelbarer Nähe zur großen Werft am Ostufer der Kieler Förde. Rainer Adelungs Büro ist schon rein optisch das eines Physikers, dominiert von einem großen Whiteboard mit augenscheinlich hastig hingeschriebenen Formeln und Begriffen. Er greift während des Gesprächs öfter nach seinem „Wundermaterial“: Aerographit. Eine Probe liegt in einer transparenten Plastikbox, ein schwarzer Würfel, optisch wie ein Radiergummi, nur sehr leicht, fast so leicht wie Luft. Aerographit besteht aus winzigen so genannten tetrapodalen Strukturen – im Grunde vier Röhrchen, die an einem Ende zusammenhalten und alle in eine andere Richtung zeigen. Würde man diese, stark vergrößert, auf den Boden werfen, ragte immer ein Röhrchen nach oben.

Herr Adelung, Sie sind Professor für funktionale Nanomaterialien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, geboren 71 in Detmold. Abitur und Physikstudium in Kiel. Spezialisiert auf funktionale Nanomaterialien. Und weil das nicht jedem etwas sagt: Was genau sind Nanomaterialien? Und gibt es ein Vorbild in der Natur?

Grundsätzlich gesagt, was wir hier machen, nennt sich Materialwissenschaft. Die kennt man nicht so aus der Schule, sondern sie ist eher ein Querschnittsfachgebiet. Materialien kann man anfassen. Nanomaterialien hingegen sind Materialien, bei denen die Abmessungen nur auf der Nanometer-Skala ablesbar sind. Wenn ich drei bis fünf Atome nebeneinanderlege, dann habe ich die Entfernung eines Nanometers, oder man könnte auch sagen ein Millionstel Millimeter. Ich nehme eine Millimeterskala, zerhacke die in 1000 Stücke. Dann zerhacke ich jedes dieser Stücke noch mal in 1000 Stücke, dann habe ich die Länge eines Nanometers.
Gibt es da ein Nanomaterialien in der Natur? Die Antwort: Ganz klar ja. Der Mensch besteht eigentlich aus Nanotechnologie. Wenn wir zum Beispiel mal anschauen, wie unsere Zellen im Inneren funktionieren, da gibt es Proteine, die können kleine, komplexe Maschinen sein, die sich bewegen. Sie sehen aus, als ob sie auf zwei Beinen laufen würden – so genannte Motorproteine, im Grunde Nanomaschinen.

Sie werden ja wahrscheinlich öfter gefragt: ‚Okay, alles sehr schön in der Theorie. Zeigen Sie doch mal was‘.

(Er greift zu einem transparenten Plastikbehälter) Nanopartikel sieht man nicht, weil sie so klein sind. Ich habe aber eine Präsentationsbox, weil ich das öfter gefragt werde.

Darin befindet sich ein kleiner schwarzer Würfel, der aussieht aus wie ein Radiergummi.

Dieser Würfel wiegt 63 Milligramm, also praktisch nichts. Etwa so viel wie Luft. Man müsste jetzt Röntgenaugen haben, um zu sehen wie diese Struktur aufgebaut ist. Das Innere ist aus lauter kleinen Stäben aufgebaut. Diese kleinen Stäbe sind hohl und diese ganzen Hohlröhren sind verbunden, wie im Prinzip bei einem Baugerüst. Ist ein bisschen beim Bambus abgeguckt. Bambus sind ja auch Hohlröhren und aus Bambus kann ich tolle dreidimensionale Gebäude bauen.

Wie stellen Sie sowas her? Das schnitzen Sie ja wahrscheinlich nicht.

(Er greift zum nächsten kleinen Plastikbehälter) Dazu nehmen wir dieses Pulver. Es fühlt sich warm an, ich kann es Ihnen in die Hand geben, es ist ganz weich. Wie fühlt es sich an?

Ein bisschen wie ein Marshmallow?

Ja, genau. Aber es ist tatsächlich eine Keramik. Das ist Zinkoxid. Dieses Zinkoxid besteht aus sogenannten Tetrapoden, vier Arme soweit im Raum verteilt, wie es nur geht. Man kennt das vielleicht als Wellenbrecher vor Sylt. Wir können diese Keramik nehmen und in eine beliebige Form bringen.

Ein Prinzip Ihrer Forschung ist, dass Sie ergebnisoffen arbeiten?

Genau das ist ganz wichtig. Und das ist eben auch das Faszinierende, weil man sich überraschen lassen kann. Und man muss aber natürlich einen wissenschaftlichen Hintergrund haben, wenn man dann drauf guckt. Das Material hat vielfältige Eigenschaften, die wir entdeckt haben. Man kann durch Aerographit Strom leiten. Da das Material aber praktisch keine Masse hat, erhitzt es sich ungemein. Ich kann innerhalb von Sekundenbruchteilen mit ganz moderaten Spannungen von einer ganz normalen Batterie viele 100 Grad erreichen. Die Luft erhitzt sich genauso schnell, und wenn sie sich auf 400 Grad erhitzt, dann verdoppelt das ungefähr das Volumen der Luft und dehnt sie aus. Wenn ich jetzt dieses Material in eine kleine Box gebe, erhöhe ich den Druck ums Doppelte. Dann bringe ich an dieser Box noch zwei Ventile an und fertig ist eine Pumpe ganz ohne bewegliche Teile.
Bei dieser heißen Luft gibt es noch einen anderen Effekt. Nur um ein zweites Beispiel zu nennen. Wenn sie jetzt hier zwei Kontakte anbringen, kann man daraus einen Flachlautsprecher bauen. Bei einem klassischen Lautsprecher wird durch einen Magneten eine Membran bewegt, und die schubst die Luft zu Schwingungen an. Und hier wird das Material direkt warm und kühlt schnell wieder ab. Wir können an das Material ja direkt Strom anlegen. Der erzeugt einen direkten Klang, was bei einem normalen Lautsprecher nicht funktioniert, bei dem sich erst eine Membran hin und her bewegt.

Wer ist denn für Ihre Art Forschung geeignet? Wen suchen Sie eigentlich?

Materialwissenschaft ist ein interdisziplinäres Querschnittsfach. Wir machen von Implantaten über neue Batterien sowie exotische Materialien alles Mögliche. Also wenn man sich nicht entscheiden kann, soll ich Physik oder Chemie studieren, aber diese Fächer spannend findet, dann könnte man sich mal die Materialwissenschaft ansehen.

In meinem privaten Umfeld kenne ich genau eine Frau, die Physik studiert. Wie ist das Verhältnis hier bei Ihnen?

Im Bereich der Physik sind tatsächlich wenige Frauen vertreten, auch in den Ingenieurwissenschaften gibt es wenige. Bei uns am Standort ist es allerdings ein bisschen anders. Etwa 30 Prozent der Erstsemester sind Frauen.

Gibt es Fachkräftemangel In der Materialwissenschaft und in der Materialtechnik?

Ja, wie überall. Wir überlegen, wie wir den Fachkräftemangel überwinden können. Wir müssen flexibel sein. Wir bieten zum Beispiel ein Masterstudium an. Man macht zuerst den Bachelor, typischerweise drei Jahre, den Master noch mal zwei Jahre, der ist international, auf Englisch. Keine Angst, wer da große Barrieren sieht. Ich selbst war nie besonders gut in Sprachen. Mein Fokus in der Schule lag eher auf Naturwissenschaften, aber hier sprechen wir kein Schulenglisch; es gibt niemanden, der uns korrigiert.
Außerdem bieten wir Programme, zum Beispiel die ‚Science and Technology Academy‘, an der auch Firmen mitarbeiten. Da können Studierende reinschnuppern, ob es ihnen gefällt. Die Firmen können wiederum herausfinden, ob ihnen die Expertinnen und Experten, die wir hier ausbilden, gefallen.
Aber grundsätzlich muss man sich reinarbeiten wollen. Wie funktioniert was? Zum Beispiel ein Motor ohne bewegliche Teile? Wie kann ich das darstellen? Wie kann ich vielleicht neue Medizinmaterialien erstellen? Wir haben ein Zinkoxid als Herpes-Medikament entwickelt. Viren sind winzig klein. Unser Nanomaterial kann Viren binden, es hält im Prinzip den Herpesvirus fest und bündelt ihn zu größeren Strukturen. Erst dann kann er vom Immunsystem erkannt werden. Dann kann es früher Alarm signalisieren, und der Körper kann sich immunisieren.

Wie wird die Forschung hier gefördert?

Schleswig-Holstein ist kein besonders reiches Bundesland. Deswegen arbeiten wir auch mit sogenannten Drittmittelanträgen. Da gibt es die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder die EU finanzieren Projekte. Es gibt aber auch manchmal Firmen, die sagen, diese oder jene Idee ist interessant, entwickelt das mal. Und dann treffen wir Vereinbarungen, damit die Firmen uns auch direkt finanzieren können.

Forscher und Material

Adelung arbeitet vor allem mit Zinkoxid.

Ein großes Thema in Schleswig-Holstein ist die geplante große Batteriefabrik in Dithmarschen. Sind Nanomaterialien auch dafür interessant?

Bei uns am Lehrstuhl haben wir eine Abteilung für Batterietechnologie. Wir forschen daran, die sogenannte Anode der Batterie besser zu machen. Es geht darum, die Dichte des Energiespeichers zu erhöhen, um den Faktor zehn. Das revolutioniert vielleicht nicht die Batterie als solches. Aber wir haben eine gute Chance, Batterien noch mal stark zu verbessern, die Kapazität vielleicht zu verdoppeln bei gleichem Gewicht.

Bei Nanomaterialien in der Natur denke ich an menschliche Zellen, an das menschliche Gehirn, an die neuronalen Vernetzungen. Ergibt sich da eine logische Verbindung? Auch vom menschlichen Gehirn zu künstlicher Intelligenz?

Absolut richtig. Wir erforschen hier bio-inspirierte Computer-Fragen. Wieso kann das menschliche Gehirn eigentlich mit seinen 50 Watt Dinge tun, für die moderne Computer viele Kilowatt verbrauchen? Wir können uns diese hohe Energiekosten für Künstliche Intelligenz auf Dauer nicht leisten. Wir versuchen im ganz Kleinen diese Schaltkreise, die Neuronen und Synapsen nachzubauen und diese superspannenden Prinzipien des Gehirns, Energieversorgung und Kühlung, zu managen.

Damit die KI dann eines Tages menschenähnlich sein kann?

Das ist jetzt so eine Frage. Es gibt so viele offene Fragen. Was passiert in der KI-Forschung eigentlich? Da wird es philosophisch und deswegen ist es wichtig, dass man mit Personen aus den Geisteswissenschaften zusammenarbeitet. Die Grundprinzipien der künstlichen Intelligenz gelten als verstanden. Die trainiere ich ja und programmiere sie nicht, sondern ich baue nur das Setting und der Rest ist, wie man hier so sagt, selbstorganisiert. Aber was dann?

Es hieß ja mal, nach dem Internet kommt ‚das Internet der Dinge‘, also der sich selbst organisierende Kühlschrank. Und nun kommt die ‚Künstliche Intelligenz der Dinge‘? Und sie bauen diese Netzwerke, die Hardware?

Eine Sache, die uns noch fehlt, ist die Dreidimensionalität. Computerchips sind flach. Wie werden sie in Zukunft aussehen, und wie kommt die Energie dann in deren obere Stockwerke? Wir entwickeln universelle Bauelemente, die sich mit anderen selbst vernetzen können, ganz so wie im menschlichen Gehirn. Und was dann entsteht, ist die Frage. Entsteht ein Gehirn, entsteht ein Bewusstsein?

Ich stelle mir gerade einen Berufsanfänger oder Schüler vor, der mit diesen Fragen konfrontiert ist. Das ist schon heftig.

Ja, aber so denke ich eben. Also im Moment sieht es ja so aus, als ob man genau ein Leben hat und da muss man sich fragen: Was kann interessant sein? Was will ich aufbauen? Woran will ich teilhaben?

Wenn sie nochmal studieren könnten, würden sie den selben Berufsweg wählen?

Jederzeit. Weil wir so ein spannendes Betätigungsfeld haben. Ich interessiere mich für viele Dinge und bin fasziniert von medizinischer Forschung, aber auch von Energieforschung oder von kleinen Maschinchen, die Dinge tun, wofür wir vorher noch Elektromotoren gebraucht haben.

Herr Professor Adelung, vielen Dank für das Gespräch.

Den Podcast zum Gespräch findet ihr hier.

TEXT und FOTO Christian Bock