Ein Interview mit dem Bioniker Stanislav Gorb
Stanislav Gorb, Jahrgang 1965, ist Biologe, Materialwissenschaftler und Bioniker an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und arbeitet im zehnten Stock des „Biologie-Turms“ mit einem spektakulären Ausblick auf Kiels Norden. Er stammt aus der Ukraine, kam 1994 nach Deutschland und ist vor allem für seine Arbeiten zu den „Superkräften“ der Tier- und Pflanzenwelt bekannt, auch wenn er den Begriff gar nicht mag: „Man muss immer alles im Verhältnis sehen“, sagt er und nimmt als Beispiel eine Seehund-Laus, die sich selbst bei stärksten Strömungen problemlos am Fell des Tieres festhalten kann und die stärksten bekannten Haltekräfte der Tierwelt besitzt – aber eben nur in Relation zu ihrer winzigen Größe. Professor Gorb war unter anderem auch Mitglied im „Exzellenscluster Ozean der Zukunft“, einem Verbund Wissenschaftler, die Forschungsarbeiten zu Zustand und Zukunft der Meere koordiniert.
Professor Gorb, sie sind Biologe, Materialwissenschaftler und Bioniker am Zoologischen Institut der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Unter Biologie und Materialwissenschaften kann sich jeder etwas vorstellen. Aber was ist ein Bioniker?
Bionik ist der Zweig der Wissenschaft, in dem versucht wird, Ideen aus der Natur auf technischen Wegen für die Menschen nützlich zu machen. Wir arbeiten mit verschiedenen biologischen Materialien oder biologischen Oberflächen und versuchen, die funktionalen Prinzipien auf technischem Weg umzusetzen. Ein Paradebeispiel ist der Gecko-Fuß oder überhaupt Insektenfüßchen, die besonders kleben und anhaften und sich auch wieder ablösen. Aus diesen Prinzipien kann man dann Materialien und Oberflächen im technischen Bereich entwickeln.
Beschäftigen sie sich hauptsächlich dann mit Tieren und Pflanzen oder gleichermaßen? Oder gibt es da große Unterschiede?
Von Haus aus bin ich eigentlich ein Entomologe. Entomologen beschäftigen sich mit Insekten. Aber inzwischen arbeiten wir auch mit Pflanzen. Die sind in vieler Hinsicht sogar spannender als Tiere, weil sie sich nicht bewegen und nicht so viel komplexe Verhalten aufzeigen. Dafür haben sie viele spannende Materialien und Oberflächen.
Kann man das generalisieren? Sind Pflanzen klüger oder Tiere?
Tiere sind wahrscheinlich klüger, denn Pflanzen haben kein Gehirn und kein Nervensystem. Aber Pflanzen können sich nicht von Punkt A nach Punkt B bewegen. Sie müssen ihre Probleme anders lösen, mit Materialien, die sie auch verändern können oder neu erschaffen.
Wie würden Sie Ihren Werdegang schildern?
Meine Entscheidung für die Biologie war nicht, weil ich schlecht in die Mathe oder in die Physik war. Ganz im Gegenteil, ich fand Biologie immer schon viel komplexer als Physik oder Chemie, weil sie eine nächste Ebene der Organisation ist. Und dann fängt man an, sich mit Struktur, Funktion, Verhältnissen zu beschäftigen und rutscht in diese Schiene. Die Bionik habe ich natürlich nicht erfunden. Leonardo da Vinci war wahrscheinlich formal gesehen der erste Bioniker.
Sie sind Mitglied im BIOKON Netzwerk, das Bionik und Wirtschaft vernetzen will, aber sich auch zur Aufgabe gemacht hat, „mit Bildungsaktivitäten den Nachwuchs zur Natur und technische Berufe zu begeistern. Denn Bionik fasziniert Groß und Klein durch die Genialität der biologischen Vorbilder.“ Wen suchen sie eigentlich? Wer sollte Bioniker werden? Was brauche ich dazu?
In die Bionik führen verschiedene Wege. Ich kenne viele Kollegen, die entweder Materialwissenschaften oder Ingenieurwissenschaften studiert haben. Und sich dann später, durch die Begeisterung zur Natur, mehr mit biologischen Systemen beschäftigt haben. Man fängt als Ingenieur an und versucht dann, sich die Biologie anzueignen. In meinem Fall war das umgekehrt. Ich habe als Biologe angefangen, bin dann durch die Aneignung von Kenntnisse aus der Ingenieurwissenschaften immer mehr Richtung Bionik gegangen. Viele Wege führen nach Rom. Ich glaube letzten Endes ist einfach Begeisterung für dieses Fach notwendig. Und dass man an der Sache Spaß hat, nur so macht man seine Arbeit gut. Das ist ja nicht bloß ein Wort, sondern es gibt eine kausale Kette, dass Spaß zu Erfolg führt.
Jüngst haben Sie über die chinesische Reis-Heuschrecke publiziert, die über Wasser laufen kann. Wie macht sie das?
Diese Heuschrecke kann von der Wasseroberfläche springen. Sie haben Luftsäcke im Körper, die sie über Wasser halten. Und dann produzieren sie extrem schnelle Bewegungen, drücken eine Luftblase unter Wasser und können sich so von der Oberfläche abstoßen.
Und diese Heuschrecke haben chinesische Robotik-Experten dank ihrer Forschung nachbauen können?
Wir haben Kooperationen mit mehreren chinesischen Forschern. Ich war selber in China und habe vor Ort geschaut, welche einheimischen Tiere für meine Forschung interessant sind. Wir haben einige ausgesucht und ein paar ersten Experimenten selbst gemacht. Die Kollegen haben dann mit unseren Erkenntnissen eine Art Spielzeug nachgebaut. Ob die Welt sowas braucht, ist eine andere Frage. Aber bei unserer Forschung geht es primär nicht darum, ob wir etwas bauen, das nützlich ist. Wir versuchen, Effekte zu erforschen und nachzuahmen. Denn wenn wir die nachbauen können, so wie die Heuschrecke, das bedeutet für mich: wir haben es verstanden.
Wir es denn irgendwann konkrete Produkte für meinen Alltag geben, die auf ihrer Arbeit beruhen?
Wie bringen Sie Ihre Weihnachtsdekoration an der Wand an? Sie nutzen bestimmt Klebeband? Dann haben Sie bestimmt festgestellt, nach gewisser Zeit, vielleicht ein paar Stunden oder paar Tage, fällt es runter. Warum? Die Antwort ist ganz einfach. Die Beschichtung des Klebebandes ist im Grunde genommen ein Material, der ist weder fest noch flüssig ist. Aber sie fließt kontinuierlich. Das heißt, wenn Sie eine Masse da anhängen, auch wenn es keine große Masse ist, fließt sie mit einer bestimmten Geschwindigkeit und irgendwann fällt es runter. Nehmen sie jetzt die Füße eines Geckos, der sich dank einer winzigen spachtelförmigen Haarspitzen an den Füßen an der Wand hält. Daraus kann man eine Art Klebeband entwickeln. Unser Material hält, wenn es erst einmal an der Wand ist. Ihre Deko fällt nie runter. Gecko-Tape ist keine Flüssigkeit, sondern ein Festkörper. Die Haftung kommt durch die Struktur und nicht durch die Chemie des Materials.
Das haben Sie aus der Natur gelernt?
Genau das haben wir von der von den Füßchen der Geckos und Insekten gelernt.
Weil wir über das diese kleinen Dinge gesprochen haben, würde ich gerne mal große Themen ansprechen. Sie sind Mitglied im „Exzellenzcluster Ozean der Zukunft“, der den Zustand der Meere analysieren soll. Was unternehmen Sie da? Was wollen Sie erreichen? Was kann Ihr Fachgebiet da beitragen?
Im Großen und Ganzen geht es uns in diesem Verbund um Diversität, Vielfalt von Organismen und deren Anpassungsfähigkeiten, über deren Interaktionen. Es geht um klimarelevanten Fragestellungen wie um den gestiegenen Säuregehalt der Ozeane. Was für Auswirkungen hat das auf Muschelschalen oder auf Skelette von Organismen? Da kommen wir mit unseren strukturellen Kompetenzen ins Spiel. Das heißt unsere Mission dort ist vielleicht nicht unbedingt bionisch, aber mit unseren Kompetenzen zur Analyse von in Strukturen und Funktionsverhältnisse können wir viel beitragen. Es gibt mehrere interessante Kooperationen, zu denen wir mit unserer Kenntnis oder mit unseren Fähigkeiten beitragen können. Primär hat unsere Mission dort mit Mikroskopie-Techniken zu tun. Wir haben zwei methodisch große Zweige aufgebaut: Die Mikroskopie, und zwar vom Mikrometer- bis in den Nanometer-Bereich und auch darüber hinaus. Das heißt, wir können biologischen Strukturen und Oberflächen mit unterschiedlichsten mikroskopischen Methoden analysieren: in frischem Zustand, in Trockenzustand, oder sogar eingefroren. Und wir können bei diesen winzigen Strukturen auch bestimmte Kräfte messen. Das ist einmalig.
Kurz gesagt, sie liefern die Werkzeuge für Kollegen aus allen möglichen Forschungsgebieten?
Genau, Werkzeuge, die bestimmte Probleme oder bestimmte Fragestellungen in diesem Bereich beantworten können.
Glauben Sie, dass die Ozeane noch große Überraschung für Ihr Fachgebiet bereithalten?
Auf jeden Fall. Wir wissen ganz wenig über Biologie der marinen Organismen. Wir wissen viel über terrestrische Organismen. Jedes Experiment mit einem terrestrischen Organismus ist viel, viel einfacher als mit Organismen, die im tiefen Ozean leben. Da ist vieles schlicht unmöglich.
Ich habe den Eindruck, sie stehen mit ihren Forschungen vor 1000 verschiedenen Fragen, und können sich wahrscheinlich gar nicht entscheiden, wo fange ich an?
Das ist richtig. Aber wenn meine Studenten fragen: Kann ich einen guten Wissenschaftler werden oder nicht? Dann sage ich, eine abgeschlossene Arbeit bedeutet, man hat immer mehr Fragen am Ende der Arbeit als zu Beginn. Man fängt mit einer Frage an und am Ende der ganzen wissenschaftlichen Arbeit entsteht ein Strauß neuer Fragen. Und das ist der Knackpunkt. Wenn mein Student sagt, ich finde es faszinierend, dass es so viele neue Fragen gibt, ich fühle mich berufen, diese Fragen zu beantworten. Dann ist er der Typ für die Wissenschaft. Aber wenn einer sagt, ach, ich bin frustriert, ich habe gearbeitet und gearbeitet, ich habe jetzt mehr Fragen als Antworten, dann ist das eher keine gute Voraussetzung, um Wissenschaftler zu werden.
Herr Professor Gorb, vielen Dank für das Gespräch.
TEXT Christian Bock
FOTO Esther Appel