Helge Braun, Präsident der Universität zu Lübeck: Erste Einblicke ins neue Amt

Helge Braun, Präsident der Universität zu Lübeck: Erste Einblicke ins neue Amt

Helge Braun ist 1972 im hessischen Gießen geboren und seit 1. April 2025 neuer Präsident der Universität zu Lübeck, gewählt für sechs Jahre. Davor war er lange Zeit für die CDU Minister und Mitglied des Bundestags. Als neuer Präsident der Universität zu Lübeck hat er sich viel vorgenommen und widmet sich nun voll und ganz seinem neuen Amt.

ME2BE: Herr Braun, im Gegensatz zur Stadt selbst ist die Universität zu Lübeck jung, erst seit 2002 eigenständige Universität. Sie haben Ihren Doktor mit dem Thema ‚Tachykardien‘ gemacht. Übersetzt heißt das ‚Herzrasen‘. Hatten Sie Herzrasen bei Ihrem Amtsantritt?

Helge Braun: Beim Amtsantritt jetzt Anfang April nicht mehr, aber natürlich muss man sich, bevor man ein Amt überhaupt antreten darf, erstmal zu einer Wahl stellen. Es sind schon ein paar aufregende Momente dabei.

Wie würden Sie die Universität beschreiben? Ist die Uni traditionell-konservativ oder modern? Und was macht sie eigentlich attraktiv?

Die Universität ist im Verhältnis zu mancher altehrwürdigen Universität, die es seit vielleicht über 400 Jahren gibt, was in Deutschland ja nicht selten ist, eine absolut junge Universität. Wir sind seit zehn Jahren Stiftungsuniversität und entwickeln unsere Strukturen und Studiengänge immer weiter. Wir entwickeln Studiengänge, die absolut in die Zeit passen, mit einem klaren Fokus auf das Leben. Wir haben in den letzten zehn Jahren 60 Prozent mehr Studierende aufgenommen.

Was sind die Schwerpunkte des Studienangebots?

Wir haben einen starken lebenswissenschaftlichen Fokus. Rund die Hälfte unserer Studierenden sind im Fach Medizin eingeschrieben. Darüber hinaus haben wir uns auf die Fahne geschrieben, Gesundheitswissenschaften wie Pflege, Hebammenwissenschaften und andere zu akademisieren – das kann man hier universitär studieren. Und auch wer in diesem Bereich forschen möchte, bekommt Angebote. Eine unserer Säulen ist die Informatik, mit einem ganz starken Bereich der Künstlichen Intelligenz rund um die Medizin. Dazu bieten wir Naturwissenschaften, Technik und Psychologie. Es rankt sich alles im weitesten Sinne um das Leben. Deshalb lautet unser Slogan „Im Fokus das Leben“.

Arbeiten Sie aktiv gegen den Ärztemangel? Möchten Sie Spezialisten ausbilden, die sich auf bestimmte medizinische Felder konzentrieren?

Wir brauchen alles. Wir haben zu wenig Ärztinnen und Ärzte im ländlichen Raum, und wir brauchen Forschende, die die großen Volkskrankheiten zu besiegen helfen, sei es die Demenz in einer alternden Gesellschaft, Herzerkrankungen, Schlaganfall oder seltene Erkrankungen. Insofern ist es unser Ziel, eine hervorragende Ausbildung für Mediziner zu etablieren. Vor Kurzem ist das in Deutschland sehr beachtete CHE-Ranking der Universitäten veröffentlicht worden. Da sind wir deutschlandweit in der Medizin auf Platz drei. Darauf sind wir sehr stolz. Wir wollen das Studium besonders forschungsorientiert ausrichten. Das heißt, Medizinstudierende sollen möglichst früh ins Labor gehen, das Gefühl bekommen, wie medizinische Forschung funktioniert. 

Damit produzieren sie aber keine Landärzte. Wie bringen Sie denn einem jungen Menschen bei, dass der Landarzt auch ein attraktiver Beruf ist?

Wir haben eine hervorragende Professur für Allgemeinmedizin und kooperieren mit vielen Lehrpraxen in ganz Schleswig-Holstein. Und jeder Medizinstudierende merkt irgendwann selbst, wofür sein Herz schlägt.

Wir haben ein neues Forschungsgebäude, wo man aus dem Flur über gläserne Wände direkt in die Labore gucken kann, sodass man spürt, hier wird geforscht und gearbeitet.

Ihr Herz schlug ja anfangs für Intensivmedizin. 

Ja, ich komme selber aus der Anästhesiologie und der Schwerpunkt, der mich am meisten begeistert hat, ist die Intensivmedizin. Die ist wunderbar, weil sie extrem wirkungsvoll ist. Als Arzt kann man sehr kranken Patienten wirklich helfen. Und genau dieser Vorteil ist auch gleichzeitig der Nachteil. Man erlebt, dass wir nicht alles erreichen können und dass man Patienten auch mal nicht mehr helfen kann. Damit muss man klarkommen. Und deshalb sagen manche, die Intensivmedizin ist mir zu belastend. 

Was wollen Sie in Ihrem Amt erreichen, wie steht die Uni gerade da?

Die Uni steht hervorragend da. Wir haben einen wirklich schönen Campus, wo Studierende leben und Forschung sehr sichtbar ist. Wir haben ein neues Forschungsgebäude, wo man aus dem Flur über gläserne Wände direkt in die Labore gucken kann, sodass man spürt, hier wird geforscht und gearbeitet. Wir arbeiten daran, auch unsere Exzellenz in der Wissenschaft noch weiter zu stärken, indem wir an der Schnittstelle zwischen Medizin und Künstlicher Intelligenz ansetzen, die den Menschen wirklich nützt. Wir sind aber nicht unkritisch. Viele, die mit Künstlicher Intelligenz arbeiten, zum Beispiel in den USA, warnen vor den Folgen. Wie muss eine KI sein, der der Mensch wirklich trauen kann? Das ist etwas, das wir an einer deutschen Universität entwickeln, mit Psychologen auf der einen Seite, mit Medizinern auf der anderen Seite, mit unseren hervorragenden Informatikern. Das kann auch ein hervorragendes Forschungsgebiet für Post-Docs und Doktoranden sein. 

Haben Sie einen Schwerpunkt, etwas, dass Sie persönlich interessiert?

Wir sind sehr breit aufgestellt. Es geht natürlich nicht darum, worauf der Präsident Lust hat. Forschende sind sehr frei in ihrer Entscheidung, was und wie sie forschen. Das verbindende Element dieser Universität ist die Überlegung: Was macht den Menschen als intelligentes Wesen eigentlich aus? Nicht nur die Intelligenz, auch die Sensorik. Wir nehmen Einflüsse wahr, sehen, hören und schmecken. Im Kontext der Künstlichen Intelligenz heißt das übersetzt: Sensorik. Wie haben auf dem Campus ein Fraunhofer-Institut, das sich genau darum kümmert. Wir können für die Anwendung in der Medizin, aber auch weit darüber hinaus, Künstliche Intelligenz nicht nur als Softwareprodukt betrachten, sondern von der Sensorik bis zur Robotik als etwas, das uns aktiv unterstützen kann – in ganz realen Prozessen, zum Beispiel bei der robotischen Chirurgie. 

Sie möchten die Universität ‚internationalisieren‘. Was meinen Sie damit? Ist Lübeck etwas außerhalb des Radars der internationalen akademischen Welt?

Nein. Hier ist Lübeck gut aufgestellt und steht nicht völlig am Anfang der Internationalisierung. Ganz im Gegenteil, wir haben Kooperationen in verschiedene Richtungen. Aber wenn man exzellente Wissenschaft machen muss, braucht man immer Partner. Da spielt die Frage, wo man ist, weniger eine Rolle als die wissenschaftliche Fragestellung. Deshalb wollen wir Forschungskooperationen ausbauen mit Spitzenwissenschaftlern auf den Gebieten, in denen wir selber gut sind. Das zweite ist, dass unsere Studierenden Gelegenheit haben, Auslandserfahrungen zu sammeln. Einfach mal andere Länder im akademischen Kontext kennenlernen. Gerade in den Staatsexamensstudiengängen wie Medizin und Psychologie ist es nicht so leicht, einfach mal ein Semester ins Ausland zu gehen, ohne Zeit zu verlieren. 

Sie haben gesagt, der Nationalismus mache Ihnen Sorgen. Der geht ja oft einher mit direkter politischer Einflussnahme auf Universitäten.

Wenn man sich bei uns an der Uni umhört, schauen gerade viele mit großer Sorge auf die USA, was dort an der Columbia University oder der Harvard University passiert ist. Dass mit politischer Einflussnahme grundlegende Finanzierung entzogen wird, wenn man politische Direktiven nicht akzeptiert. Das hat uns erschüttert. Das sind Dinge, die uns große Sorgen machen, weil wir genau die gegenteilige Entwicklung für richtig halten. Und deshalb nutzen wir den 23. Mai, den Tag unseres Grundgesetzes, um auf die Bedeutung von Artikel 5 hinzuweisen, der die Wissenschaftsfreiheit garantiert. Weil vielen gar nicht mehr so bewusst ist, wie wichtig es ist, dass es keine Verbote und Gebote geben darf, worüber Wissenschaftler forschen. Wir wollen klare Erkenntnisse. Alles, was erforscht ist, muss auch wieder bestritten und neu erforscht werden können, damit wir uns als Gesellschaft immer weiterentwickeln.

Sie sind ehemaliger Berufspolitiker. Wie hat die Studierendenschaft Sie aufgenommen?  

Ich habe gleich am Anfang gesagt, dass das Amt für mich ein völliger Perspektivwechsel ist. Der Wechsel aus der Politik an eine Universität ist der Wechsel zu einer Organisation, die per se erst mal politisch neutral ist, und der Außenrepräsentant dieser politisch neutralen Organisation ist der Präsident. Deshalb habe ich von Beginn an gesagt, wenn ich eine solche Rolle einnehme, hört das allgemeinpolitische Mandat auf. Deshalb werde ich auch zu allgemeinpolitischen Fragen öffentlich nicht mehr Stellung nehmen. Aber wie man gerade an dem Thema Wissenschaftsfreiheit sieht, bedeutet es nicht gleich, dass eine Universität komplett unpolitisch oder ein Präsident komplett meinungslos ist. Wenn es um die Interessen der Universität, typischerweise um unser Budget geht, oder um die Grundlagen, auf der eine Universität steht, nämlich unsere Freiheitsrechte, wird das Amt eines Universitätspräsidenten sehr politisch.

Am 23. Mai ist Campustag an der Uni. Was und wen wollen Sie erreichen?

Wir wollen generell eine offene Universität sein. Deshalb machen wir viele Aktivitäten wie das Schülerlabor, um Gelegenheit zu geben, einfach an die Uni zu kommen und praktisch zu arbeiten. Der Campustag ist eine Gelegenheit, um zu überlegen: Was will ich studieren? Wann will ich studieren? Man kann einfach die Uni und die Studiengänge in Medizin, Gesundheitswissenschaften, Informatik, Technik und Psychologie kennenlernen. Viele, die unseren Campus gesehen haben, fühlen sich hier gleich wohl und spüren, das ist ein schöner Ort, zu studieren. Wir werden für Fragen zur Verfügung stehen. 

Machen Sie sich über das allgemeine Bildungsniveau an Schulen Sorgen?

Wir sind uns natürlich bewusst, dass wir zum Beispiel in den Naturwissenschaften Studiengänge anbieten, die allgemein als nicht ganz leicht empfunden werden. Aber wir freuen uns riesig, wenn es junge Menschen gibt, die Naturwissenschaften interessant finden, die sie studieren möchten. Das sind genau die Berufe, die wir in Deutschland brauchen. Deshalb machen wir jungen Leuten Mut, sich für ein naturwissenschaftliches Studium zu entscheiden. Natürlich wollen wir, dass alle den Abschluss schaffen. Aber nicht, indem wir Qualitätsstandards senken. Aber gerade in der ersten Studienphase wollen wir denjenigen helfen, die noch ein bisschen Extra-Schwung brauchen, erfolgreich zu sein. Bei uns gibt es auch die Möglichkeit eines Propädeutikums: Das ist unser ein- bis zweisemestriges Programm zur Studienorientierung und fachlichen Vorbereitung in der Übergangsphase zu einem Studium in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik.

Sie wollen, kurz gesagt, den Standort attraktiv machen. Wie ist das für Sie persönlich? Mögen Sie Lübeck?

Ich bin wegen des speziellen Profils der Universität hergekommen. Nicht weil ich im früheren Leben schon Bezüge zu Lübeck hatte. Ich lerne die Stadt und die Universität mit meinem Amtsantritt erst richtig kennen. Es ist eine sehr schöne, traditionsreiche, weltoffene Stadt. Und wenn man aus der Mitte Deutschlands kommt, ist Schleswig-Holstein mit seinem Zugang zu zwei Meeren besonders attraktiv. Es ist ein wirklich schöner Ort. Ich arbeite da, wo andere Urlaub machen. 

Vielen Dank für das Gespräch.

Text & Foto: Christian Bock