Ein Gespräch mit der Populismusforscherin Paula Diehl
Paula Diehl ist eine auch in den Medien oft gefragte Expertin für politische Analyse. Wenn es darum geht, die internationalen Erfolge von Populisten wie Donald Trump oder, auf nationaler Ebene, der AfD zu erklären, wird sie häufig um ihre Meinung gebeten. In unserem Vorgespräch fragt sie: „Soll ich mich möglichst einfach ausdrücken? Ich würde dem Publikum gerne etwas Aufmerksamkeit abfordern und Nachdenken zumuten.“
Bitte sehr: Ein nicht einfaches, aber grundsätzliches Gespräch über Populismus und Populisten.
Professor Paula Diehl lehrt politische Theorie und Ideengeschichte an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel. Kann man heute überhaupt einen Überblick über aktuelle politische Themen behalten?
Die Frage ist, konnte man jemals den Überblick behalten? Im Moment würde ich Ihnen recht geben mit der Beobachtung, dass wir viele brennende Situationen auf der Welt haben, auf unterschiedlichen Ebenen. Kriege an verschiedenen Orten, Klimakrise, das Problem der Migration. Die ganze Welt ist auf verschiedenen Ebenen damit beschäftigt, unterschiedliche Krisen zu bewältigen.
Kernelemente des Populismus
ME2BE: Was ist denn Populismus überhaupt? Wie definiert er sich?
Prof. Dr. Paula Diehl: Das ist eine Frage, die wir in der Forschung seit über 20 Jahren diskutieren, und es gibt unterschiedliche Sichtweisen. Es gibt ein paar Kernelemente des Populismus. Er ist eine Ideologie, bei der man die Volkssouveränität, also die Macht des Volkes, in den Vordergrund stellt, aber Elite und Volk als Opposition denkt. Wobei eine Erzählung entsteht, in der die Eliten das Volk betrogen hätten und deswegen das Volk kämpfen müsse, die Macht zurückzuerobern. Das ist ganz grob die Erzählung.
Ganz einfach gefasst „Wir werden doch verarscht von allen da oben“?
Genau, das ist eine typische Attitüde des Populismus. Das bedeutet wiederum, dass man der politischen Klasse nicht so viel zuspricht, zumindest nicht den etablierten Parteien, weil man denen unterstellt, sie handelten im Interesse der Elite, die das Volk betrogen habe. Populismus ist an sich ist nicht schlecht für die Demokratie. Er könnte die Demokratie ein bisschen nach vorne bringen in der Hinsicht, dass er a) daran erinnert, dass die Bürger und Bürgerinnen eine Rolle zu spielen haben. Das ist gut für die Demokratie. Und b) daran erinnert, dass die Leute, die wir gewählt haben, kontrolliert werden müssen. Das Problem ist, bei zu viel Populismus ist dieser positive Effekt weg.
„Populismus ist destruktiv“, aber …
Das heißt, jenseits der Grenze von konstruktiv zu konfrontativ ist alles Populismus?
Konfrontativ nicht, eher destruktiv. Populismus ist destruktiv, wenn es heißt: ‚Keine Institution ist gut. Der Staat ist an sich schlecht.‘ Dann gibt es niemanden mehr, der Ordnung garantiert. So weit sollte es nicht kommen, aber ein bisschen Populismus kann uns dazu bringen, dass wir Fragen stellen, warum Politiker und Politikerinnen diese und jene Entscheidung getroffen haben. Das ist wie Salz. Zu viel Salz macht alles ungenießbar. Zu wenig davon schmeckt nicht.
Ist denn Populismus notwendigerweise Rechtspopulismus?
Nein. Es gibt mehrere Formen des Populismus und viele Forscherinnen und Forscher auf dem Gebiet gehen davon aus, dass Demokratie immer Populismus beinhaltet. Ich hatte am Anfang gesagt, Populismus ist keine starke Ideologie. Also, was meine ich damit? Eine Ideologie gibt immer Orientierung für das Handeln. Ein Kollege, Michael Frieden, vergleicht das mit einer Landkarte. Die Ideologie gibt ihnen Orte, wo sie hinfahren wollen und Wege dazu. Populismus hat Orte, aber keine Wege. Das heißt, sie haben die Idee der Volkssouveränität, dass die Macht zurück zum Volk soll. Da wollen sie hin, aber sie wissen nicht wie. Sie haben die Idee, dass Korruption und Betrug abgeschafft werden, aber sie wissen nicht so genau, wer dafür zuständig ist.
Populismus gibt es nie pur …
Und die Populisten bauen ihnen diese Wege?
Populisten bauen eben nicht diese Wege. Nur Orte. Sie wissen nicht, wie sie hinkommen sollen. Sie müssen also andere Ideologien dazunehmen. Deswegen gibt es nie Populismus pur, er ist immer mit einer anderen Ideologie verbunden. Rechtspopulismus, Linkspopulismus, neoliberaler Populismus, Populismus der Mitte. Und jeder zeigt andere Wege.
Wie hat sich Rechtspopulismus speziell in Deutschland entwickelt?
Mit dem Rechtspopulismus haben wir eine Ideologie, die zwei Hauptprinzipien der modernen Demokratie relativiert oder ablehnt, und zwar die Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger und die Menschenrechte. Rechtsradikale Ideologien lehnen die beiden Prinzipien ab. Rechtspopulistische Ideologien müssen aber diese Prinzipien irgendwie ins populistische Gefüge einfügen, und dafür müssen sie bestimmte Prämissen der Demokratie annehmen. Deswegen sind Sie immer ‚Double-bind‘. Sie haben ein Standbein in der Demokratie durch den Populismus und ein Standbein außerhalb der Demokratie im Rechtsradikalismus. Rechtspopulisten sagen: ‚Nicht alle Menschen sind gleich und nicht alle Menschen sollen gleich behandelt werden. Wir glauben an eine Hierarchie der Rassen, der Geschlechter, der Kulturen, der Religion. Das dürfen wir in der Demokratie aber nicht sagen.‘
Ein ganz typisches populistisches Instrument: ‚Man darf sich ja gar nicht mehr frei ausdrücken.‘
Ja, das ist ein sehr aufschlussreiches ‚Instrument‘. Die Formulierung ‚Man darf sich gar nicht mehr so ausdrücken‘, ist eine sogenannte Inversion. Man sagt, der andere tut mir etwas an, was man aber selbst auch tun würde. Natürlich hat man immer das Recht, alles zu sagen, aber es hat Konsequenzen. Wenn ich etwas Antidemokratisches sage, muss ich in der Demokratie akzeptieren, dass mir jemand widerspricht und mich kritisiert. Diese Inversion, von der ich gesprochen habe, verwechselt Kritik mit Zensur. Das ist was ganz anders.
„Übertreibung gehört zum Populismus“
Ich habe jetzt als aktuelles Beispiel meinen Nachbarn. Er hat eine Todesanzeige gepostet: ‚Hier stirbt die Bundesrepublik Deutschland‘ mit einem Bild von Friedrich Merz. Und in den Kommentaren des Posts geht die Welt geht unter und alles ist vorbei. Da denkt man sich, geht es nicht auch ein bisschen kleiner?
Die Übertreibung gehört zum Populismus und zur Aufmerksamkeitslogik der Massenmedien. Die schenken Dingen mehr Aufmerksamkeit, wenn sie außergewöhnlich sind. Deshalb gibt es diese Affinität von Populismus und Massenmedien. Und das erklärt wiederum, warum Populismus immer häufiger wird.
Ist zum Beispiel die AfD eine erfolgreiche populistische Partei?
Rechtspopulistisch, ja. Und teilweise, zumindest laut Verfassungsschutz, rechtsextrem; ideologisch in bestimmten Bereichen sogar rechtsradikal. Und sie operiert sehr stark mit Populismus.
Ist der Populismus von Alice Weidel glaubwürdig, mit ihrer persönlichen Hintergrundgeschichte?
Sie spielen auf die offen gelebte Homosexualität von Alice Weidel an. Die Forschung zeigt uns etwas ganz Interessantes. Da haben Kollegen analysiert, dass die AfD mit Geschlechterrollen, vor allem mit Homosexualität, unterschiedlich arbeitet. Vor einigen Jahren gab es ein gegen Muslime gerichtetes Plakat, auf dem man zwei Männer gesehen hat. Sinngemäß hieß es: ‚Wir sind für die AfD, weil die Partei gegen die (Muslime) ist. Und die (Muslime) sind gegen unsere Liebe.‘ Hier wird Homosexualität umfunktioniert, die eigene Parteiprogrammatik in Bezug auf andere Religionen verstärkt. Aber Homosexualität ist im Diskurs der AfD ist nicht überall gleich. Die offizielle Position der Partei ist die traditionelle Familie. Es gibt unterschiedliche Positionierungen, je nach Situation.
„Nachahmung legitimiert antidemokratische Positionen“
Ist es für die anderen Parteien ratsam, den Populismus der AfD nachzuahmen?
Wir haben mehrere Fälle in dem Projekt ‚Normalisierung der extremen Rechten‘ analysiert. Das scheint ein sehr, sehr schlechter Rat zu sein. Zwei Beispiele, die ganz deutlich sind: Österreich. Da gab es die erste Koalition zwischen einer konservativen Partei und einer rechtspopulistischen Partei. Und das hat dazu geführt, dass die rechtspopulistische Partei sich etabliert hat, dass deren Anliegen, deren Sichtweise und deren Programmatik normalisiert wurde. Und man sieht in Deutschland, dass die CDU das Framing der AfD nachahmt. Inzwischen ist nur noch ein Prozent Unterschied zwischen AfD und CDU. Nachahmung legitimiert antidemokratische Positionen. Und wenn sie legitimiert sind, ist die Frage: Wer vertritt sie am besten? Und dann wird der Radikalste als authentisch empfunden.
Der ‚Republikaner‘-Gründer Franz Schönhuber hat schon Anfang der 1990er-Jahre gesagt: ‚Die Leute wählen dann lieber das Original‘. Richtig?
Genau nach dem Prinzip funktioniert es. Und wenn das Original als demokratisch durchgeht, dann haben Nachahmer keine Chance mehr. Populismus ist eine schwierige Sache. Zu viel kann destruktiv sein. Was ich vermisse, und zwar nicht nur in Deutschland, dass die demokratischen Parteien ihre Positionen markieren. Stattdessen die Argumentation der Rechtspopulisten aufnehmen in der Hoffnung: damit kriege ich deren Wählerschaft. Aber sie vernachlässigen a) das Potenzial von denjenigen, die überhaupt keinen Rechtspopulismus wollen. Und sie verstärken b) die Position von den Rechtspopulistinnen durch Nachahmung.
„… wenn man die demokratische Regeln außer Kraft setzt …“
Ich würde gerne noch über einen zweiten Begriff sprechen, der auch definiert gehört. ‚Autoritarismus‘.
Autoritarismus ist, wenn man die demokratischen Regeln außer Kraft setzt und eine Regierung will, die Meinungsfreiheit nicht mehr achtet, die Gewaltenteilung nicht mehr erlaubt, Privatpersonen und Vereine verfolgt, Pressefreiheit unterdrückt und so weiter. Was wir weltweit sehen, ist, dass sogar verfestigte Demokratien den Spielraum der Meinungsfreiheit und der offenen Gesellschaft zunehmend einschränken. Ein Beispiel sind die USA, wo sogar Gerichtsentscheidungen inzwischen nicht geachtet werden. In den Universitäten mischt sich die Zentralregierung ein, wie gelehrt wird, wer eingestellt werden soll. Das gehört aber alles zur Autonomie der Wissenschaft. Solche Dinge sind alarmierende Signale von autoritären Versuchungen, die Freiheiten in der Demokratie einzuschränken.
Worauf es ankommt …
Angenommen, sie stehen im Oval Office und vor Donald Trump und Elon Musk, mit wem würden Sie sich lieber beschäftigen?
Ich finde beide als Gegenstand unglaublich faszinierend. Elon Musk will gar keinen Staat, sondern die Kontrolle an unterschiedliche Superpower-Privatpersonen übergeben, die wirtschaftlich agieren. Bei Trump sieht es anders aus. Trump ist einerseits stark populistisch, auf der anderen Seite ein Celebrity-Star, der die ganze Zeit mit Fiktion arbeitet. Bei Trump finde ich diese Fiktionselemente interessant und gleichzeitig problematisch, weil ich merke, dass die jüngeren Generationen durch die Internetkultur immer weniger damit beschäftigt sind, Fiktion von Realität zu unterscheiden. Wenn sie mit sozialen Medien arbeiten, wischen sie sehr schnell hin und her, und man hat kaum Zeit zu fragen: ‚Ist das gespielt oder ist das echt? Ist das ein KI-generiertes Bild?‘ Ich glaube, auf dieses Phänomen müssen wir besonders achten. Denn das verändert unsere Gesellschaft komplett und erklärt, warum Akteure wie Trump immer häufiger auftreten.
Weil sie so leicht konsumierbar sind?
Ja, aber es ist eine Art der Unterhaltung, die einen auch mit einbezieht. Wenn ich dann plötzlich selber als User ein Meme von Trump machen kann, bin ich nicht nur Konsument, sondern ich mache was damit. Es ist ‚kreativ‘.
Man gestaltet Politik, aber als Illusion.
Ich würde nicht sagen, dass es eine Illusion ist. Es ist zumindest etwas, bei dem man nicht genau weiß: Was mache ich gerade? Mache ich nur Unterhaltung und spiele für mich? Mache ich eine politische Intervention? Was ist mein Status? Das müssen wir besser verstehen, sowohl in der Mediensoziologie als auch in der Medienanthropologie. Und für die Politikwissenschaft ist es natürlich auch hochrelevant.
Warum Politikwissenschaft studieren?
Stichwort Politikwissenschaft. Machen Sie doch mal Werbung. Warum sollte man bei Ihnen studieren? Was kann man lernen?
Bei mir und bei meinen Kolleginnen und Kollegen bekommt man Instrumente, mit denen man die politische Wirklichkeit besser versteht. Man lernt, Strukturen zu erkennen. Man lernt, Tricks zu erkennen, die die Politik anwendet. Wir haben ein internationales Netzwerk für Populismusforschung gegründet, weil wir wissen wollen: Was sind genau jetzt populistische Prozesse, wer sind die Akteure, wo die Innovationen? In diesem Netzwerk haben wir Kolleginnen und Kollegen aus dreizehn verschiedenen Ländern, die diese Prozesse genau beobachten und dazu publizieren.
Kann man heute die Bedeutung der politischen Wissenschaft unterschätzen?
Ich glaube, sie wird permanent unterschätzt. Aber wenn wir uns nur ein bisschen mit Populismus beschäftigen, dann merken wir, wir brauchen sie dringend.
Vielen Dank für das Gespräch.
TEXT Christian Bock
FOTO CAU Kiel
ANMERKUNG: Das Gespräch wurde für die Textfassung etwas gekürzt; manche Formulierungen wurden leicht verändert.