Jacqueline Martinovic: Das Meer ist morgens das erste, was ich sehe.

Jacqueline Martinovic: Das Meer ist morgens das erste, was ich sehe.

Ein Arbeitsplatz im nordfriesischen Wattenmeer

Im Jahr 1634 wütete ein Orkan über der Nordseeinsel Strand. Sie konnte der Naturgewalt nicht lange standhalten und riss buchstäblich in mehrere Teile. Nach dieser sogenannten Burchardiflut, blieben von der einstigen Insel Strand nur Pellworm und Nordstrand übrig – und ein kleines Fleckchen Erde mitten im Nationalpark Wattenmeer – die Hallig Nordstrandischmoor.

Nordstrandischmoor ist 170 Hektar groß – oder doch besser klein. Ein Sturmflutpfahl zeigt die höchsten Wasserstände über Normal Null seit 1634 an, wobei die Hallig bereits bei 2,50 Metern über Normal Null Landunter meldet. Dann gucken nur noch die vier Warften aus der Nordsee. Warften sind künstlich aufgeschüttete Siedlungshügel, die den Bewohnern der Halligen und ihren Tieren Schutz bei Sturmfluten bieten. Außerdem gibt es auf der Hallig einen Friedhof, einen Raum für Gottesdienste, einen Lorenbahnhof, einen kleinen Segelhafen, eine Schiffsanlegestelle, nicht zu vergessen 170 Schafe, sechs Kühe, ein Pferd, zwischenzeitlich abertausend rastende Ring- und Nonnengänse, 21 Bewohner und eine Schule – die kleinste Schule Deutschlands!

Für das Leben auf einer Hallig muss man geboren sein. Das Klima ist rau, in Herbst und Winter ist es einsam, manchmal sogar bedrohlich, nämlich dann, wenn das Wasser bei Sturm immer weiter steigt und die Nordsee sich plötzlich direkt hinter dem Gartenzaun ausbreitet. Mal eben einen Kaffee trinken im Café um die Ecke? Fehlanzeige. Shoppen gehen – ja klar, wenn man mit der Lore über den Lorendamm zum Festland fährt. Das dauert etwa eine Viertelstunde, in der es mitunter ganz schön zugig werden kann. Was veranlasst also eine junge Frau, die Bequemlichkeit ihres bisherigen Lebens gegen diese manchmal unwirtliche Landschaft einzutauschen? Es ist ihr Job. Nicht irgendein Job hat sie dazu bewogen, sondern ein Job, der Herzblut erfordert. Jacqueline Martinovic ist seit Dezember die neue Lehrerin der Halligschule. Ihre Schüler heißen Kjell, Svea, Swantje, Erik und Henrik. Sie besuchen die Grund- und Hauptschule von der ersten bis zur neunten Klasse. Sie sitzen in nur einem Klassenraum und werden von einer einzigen Lehrerin unterrichtet – gleichzeitig. Was man sich fast nicht vorstellen kann, ist auch für Jacqueline Martinovic absolutes Neuland gewesen: „Das ist schon eine Herausforderung“, gesteht sie. Studiert hat sie eigentlich Deutsch und Bio. Nun unterrichtet sie alle Fächer, auch Mathe, Kunst und Sport: „Ich nähere mich Stück für Stück an und arbeite mich in die neuen Fächer ein.RGB_DSC09394

Die Kinder haben Geduld mit mir und ich versuche mich einzufuchsen.“ Trotzdem bedeutet ein neuer Lehrer auch immer Veränderung. Besonders Kjell, der Kleinste, hadert noch und ist von seiner neuen Lehrerin gar nicht begeistert. Erst als sie ihn ermutigt, rückt er mit der Sprache heraus: „Sie gibt zu viele Hausaufgaben auf“, findet er. Sie muss schmunzeln. Kjell hat natürlich unterschlagen, dass es am Wochenende keine Hausaufgaben gibt, wenn alle in der Woche gut mitgearbeitet haben. „Jeder Lehrer hat seinen eigenen Stil und seine eigene Ordnung.

Ich habe hier ein paar Dinge verändert, Regeln aufgestellt und umsortiert. Wie Frauen so sind!“ Natürlich ist der Schulalltag in der Halligschule ein ganz anderer, als an einer regulären Grundschule. Aber es gibt durchaus Parallelen: „Vom Sinn her ist es hier das Gleiche. Auch in meiner alten Grundschule in Ascheberg habe ich in einer Klassenstufe differenziert unterrichtet und den Stoff für die stärkeren und die schwächeren Schüler unterschiedlich vorbereitet. Das ist hier ganz ähnlich – nur im großen Stil. Jeder Schüler bekommt eine Aufgabe und weiß, was er machen soll. Sie lernen schnell, bestimmte Dinge allein zu machen.“ So schreibt Henrik zum Beispiel in der 9. Klasse gerade eine Mathearbeit, während Kjell und Svea im Kunstunterricht Spardosen basteln. Zum Sportunterricht geht es raus auf den Spielplatz: „Er bietet viele Möglichkeiten. Mit den großen Jungs mache ich Ausdauertraining, dann gehen wir joggen. Wenn das Wetter zu schlecht ist, räumen wir die Tische und Stühle zur Seite und improvisieren im Klassenzimmer“, erzählt sie. Kreativ muss man sein und lernen, sich der Natur anzupassen.

Im Schulhaus, in dem der Halliglehrer traditionell auch wohnt, hat sie sich eingerichtet. Das Haus ist vor ihrer Ankunft noch renoviert worden: „Als ich das erste Mal in meinem Wohnzimmer stand, um mich hier umzusehen, habe ich diesen Ausblick gesehen“, schwärmt sie. Der hat sie umgehauen und er ist wirklich phänomenal. Rundherum nur Meer: „Das Meer ist morgens das erste, was ich sehe“, und das genießt sie in vollen Zügen. Sie mag die Natur und die Ruhe. Am Wochenende geht es zu ihrem Mann nach Ascheberg bei Plön: „Dann wird erst einmal eingekauft“, schmunzelt sie. „Ich komme mit leeren Koffern an und mit gefüllten wieder auf die Hallig.“ Lebensmittel, Getränke, Dinge des täglichen Bedarfs – alles, einfach alles, müssen die Inselbewohner mit der Lorenbahn auf die Hallig bringen, denn hier gibt es weder Bäcker noch Supermarkt. Wenn sie doch mal etwas vergessen hat, bringt es ihre Nachbarin Ruth Kruse-Hartwig mit, wenn sie zwischendurch auf das Festland fährt: „Bekommt man allerdings plötzlich Heißhunger… hat man ein Problem.“ Da hilft nur durchhalten.

Bei allen anderen Problemen sind die Nachbarn zur Stelle: „Wenn mal etwas kaputt ist, kann ich die Nachbarn fragen. Sie sind jederzeit für mich da“, freut sie sich über die Hilfsbereitschaft und darüber, dass sie hier so positiv empfangen wurde. „Wir sind so begeistert, dass wir sie haben und dass sie unsere Kinder unterrichtet. Es könnte nicht besser passen“, erzählt Ruth Kruse-Hardwig, die übrigens die Mutter dreier Schüler der Halligschule ist. Wenn sich Jacqueline Martinovic am Freitagmittag auf den Weg nach Aichelberg zu ihrem Mann aufmacht, lässt sie alle Schulsachen auf der Hallig: „Wochenende ist Wochenende“. Das ist auch richtig so, denn schon am Sonntagabend kommt sie zurück, um am Montag fit und pünktlich in der Klasse zu stehen. Dann kann sie, auch während der Arbeit, wieder den großartigen Ausblick genießen: „So ein Arbeitszimmer hat nicht jeder – das ist ein Traum!“

Klappe – Film ab!

Eine junge Frau auf einer einsamen Hallig. Das ist schon einen Beitrag wert! Das dachte sich auch der NDR, der im Februar ein Filmteam auf die Hallig schickte, um eine kleine Reportage über die Halliglehrerin zu drehen. Mit Kamera und Tontechnik ging es mit der Lore auf nach Nordstrandischmoor. Für den knapp drei Minuten langen Film wurde fast vier Stunden gedreht. Die Schüler fanden das natürlich spannend und auch für Jacqueline Martinovic war das eine völlig neue Erfahrung. Bei strahlendem Wetter und milden Temperaturen war es auch für unsere Redakteurin ein sehr schöner und spannender Tag auf der Hallig!

Bald bekommt Jacqueline Martinovic ihre eigene Lore. Kevin Laske fängt die erste Fahrstunde ein.

Bald bekommt Jacqueline Martinovic ihre eigene Lore. Kevin Laske fängt die erste Fahrstunde ein.

Text & Fotos Claudia Kleimann-Balke